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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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ist eine davon, aber bestimmt nicht die lebensvolljasagende und die begehrteste dieses unfreiwilligen Stoikers, der an der Lebenswut leidet.
    Weiter ging er, der Diagnostiker, mit seiner Kritik an den Missständen seiner Zeit, die das Erlösungsbedürfnis unbefriedigter Seelen erst notwendig machten. Von seinen dreizehn geplanten «Unzeitgemäßen Betrachtungen» hat er nur vier realisiert: «David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller», «Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben», «Richard Wagner in Bayreuth» und «Schopenhauer als Erzieher». Alle gehen sie von einer Grundsatzkritik am gegenwärtigen Zeitalter aus. Sie richten sich gegen den Geist der Gründerzeit, gegen den Wahn, die «deutsche Kultur» habe den Krieg von 1871 gegen Frankreich gewonnen, gegen den vordergründigen Optimismus auf der Grundlage der Wissenschaft der Epoche – eine Vernunftgläubigkeit, die der Innovation wie der Kunst tödlich sei –, gegen den Bildungsphilister, der das Behagen an der eigenen Enge, Beschränktheit und Ungestörtheit den echten Experimenten des Geistes sowie dem unruhig schaffenden Trieb des Künstlers entgegensetzt, gegen Fortschrittswahn, Nationalismus und gegen überhandnehmendes Historisieren als Ausdruck einer greisenhaften Rückwärtsgewandtheit. «Die historische Krankheit» wollte Nietzsche seine zweite unzeitgemäße Schrift ursprünglich nennen, und in dieser pointierten Betitelung liegt zugleich die schärfste Kritik, Polemik und Aufrüttelung eines Denkers gegen sein Zeitalter. Ein Übermaß an Historie, wie es in seiner Gegenwart gang und gäbe war, führte nach Nietzsche dazu, dass das Leben entartete und innerlich austrocknete. Über dem unentwegten Zurückschauen, Überrechnen, Abschließen, Trostsuchen im Gewesenen gehe die plastische Kraft des Werdenden völlig verloren. Das Epigonenzeitalter einer verabsolutierten historischen Bildung sei eine «angeborene Grauhaarigkeit» . Und war Geschichte, als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, die sich als Lebensabschluss präsentierte, als Abrechnung für die Menschheit, dem Weltgericht mittelalterlich-theologischer Vorstellungen nicht verdächtig verwandt? Ein solches Selbstverständnis von Zeitgenossen, die in sich das Gefühl kultivierten, im fünften Akt der Tragödie zu leben, sei feindlich gegen alles «Neu-Anpflanzen, Kühn-Versuchen, Frei-Begehren» . Hier machte sich einer frei von seiner eigenen Überfrachtung mit Wissensstoff und von wissenschaftlicher Einschnürung von früher Jugend an, der sich zum kühnen Denker geboren fand und die Fesseln fühlte, die seinen freien Flug noch behinderten. Aber er machte es außerordentlich differenziert – mit philologischer Strenge, die er gelernt hatte, und mit psychologischem Feingefühl, das ihm gegeben war. Nietzsche unterscheidet zwischen antiquarischer, monumentalischer und kritischer Historie. Unter antiquarischer Historie versteht er die bloß liebende und verwahrende Vererbung des Vergangenen, die jedoch dazu neige, Leben nur zu verwahren und keines zu zeugen. «Die antiquarische Historie entartet selbst in dem Augenblicke, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert. […] Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen. Der Mensch hüllt sich in Moderduft; […] oftmals sinkt er so tief, daß er zuletzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub bibliographischer Quisquilien frißt.» Die monumentalische Historie, heroische Geschichtsschreibung, wenn man so will, berge dagegen die Gefahr, dass sie täusche durch Analogien. «Sie reizt mit verführerischen Ähnlichkeiten den Mutigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus; und denkt man sich gar diese Historie in den Händen und Köpfen der begabten Egoisten und der schwärmerischen Bösewichter, so werden Reiche zerstört, Fürsten ermordet, Kriege und Revolutionen angestiftet und die Zahl der geschichtlichen ‹Effekte an sich›, d.h. der Wirkungen ohne zureichende Ursachen, von neuem vermehrt.»
    Bleibt die kritische Form der Historie. Im Gegensatz zu den vorangegangenen hat sie die Kraft, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können. Dies werde, so Nietzsche, dadurch erreicht, dass man sie vor Gericht ziehe, peinlich inquiriere und endlich verurteile. Am Ende all dieser Rückwärtsbetrachtungen stehe aber stets das Vergessen als eine Leben

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