Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
großen Buchstaben da. Der ironisch gemeinte Begriff «Zukunftsphilologie» bildete eine unverkennbare Parallele zu Wagners «Zukunftsmusik» . Es war der Anfang vom Ende von Nietzsches philologischer Karriere, die als Blitzkarriere begonnen hatte. Im Anschluss an dieses Pamphlet gab es noch kleinere Nachgefechte. Erwin Rohde schrieb eine Erwiderung mit dem Titel: «Afterphilologie», Wilamowitz antwortete, Rohde habe seiner Kritik inhaltlich nichts entgegenzusetzen, und seine Antwort sei nur ein Freundschaftsdienst. Im kommenden Wintersemester blieben Nietzsche gar die Studenten aus. Er schrieb, dass er gerade mit Müh’ und Not ein Kolleg über Rhetorik der Griechen und Römer zustandegebracht habe, und zwar mit zwei Zuhörern – beide waren nicht vom philologischen Fach. Im April hatte er erstmals erwogen, die Philologie ganz an den Nagel zu hängen und sich als Vortragsreisender völlig dem Werk Richard Wagners, der gerade sein Bayreuther Unternehmen begründete, zur Verfügung zu stellen. Das Tribschener Idyll und damit die Erreichbarkeit seiner seelisch so notwendigen Gegenwelt war vorbei. Nietzsche half Cosima im April noch beim Packen, und am 22. Mai wurde der Grundstein fürs Bayreuther Festspielhaus gelegt. Überhaupt waren die Wagner-Anhänger die einzigen, die begeistert auf seine Tragödienschrift reagierten, allerdings lediglich die Plädoyers für Wagner herauslasen. Nietzsche schien nun zu einer Front zu gehören, die für ihn eine gewaltige Sogwirkung hatte. Angesichts dieses Über-Vaters und seiner enormen Präsenz, seiner Kontakte und seiner Erfolge, aber vor allem der Macht seiner Musik war der unglückliche Philologe, der in der Musik und im Rausch Anfang und Ende aller Dinge sah, ohne Gegenwehr. Er hielt sich zwar noch gut sieben Jahre als Professor der Philologie an der Baseler Universität, versah seinen Dienst, veröffentlichte Schriften, hielt Vorlesungen sowie öffentliche Vorträge, die zeitweise sogar seine frühere Autorität wiederbelebten. Aber er wurde krank. Nietzsches Leiden nahmen hier ihren Anfang. Er war den Göttern, die er beschwor, vor allem dem Gott des Rausches, Dionysos, den er zum Gott erhob in sich selbst, nicht gewachsen. Und die Welt dieser Götter stand in zu großem Kontrast zu seiner Wirklichkeit.
Vor dem Fragment: «Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst» finden sich in Nietzsches Aufzeichnungen von 1872/73 die Zeilen: «Furchtbare Einsamkeit des letzten Philosophen! Ihn umstarrt die Natur, Geier schweben über ihm. Und so ruft er in die Natur: Gieb Vergessen! Vergessen! – Nein, er erträgt das Leiden als Titan – bis die Versöhnung ihm geboten wird inder höchsten tragischen Kunst.»
Bayreuth/Basel/Sorrent, 1874–1878
«Die Lüge des großen Stils»
N ietzsche war unterwegs zu gewaltigen Wandlungen, die eine Reihe von Abschieden notwendig machten: vom Gelehrtendasein und seiner Basler Existenz, von der Schopenhauerschen Philosophie, vom platonischen Kunstideal, von letzten Behaglichkeiten, «mohnblumigen Tugenden» und von der Anhängerschaft Richard Wagners. Diese Ablösung vollzog sich allmählich und wahrscheinlich zeitweise unbewusst, mit viel Unbehagen verbunden und überaus ambivalent über einige Jahre, denn während er dem Komponisten noch ein bleibendes Denkmal setzte in seiner «unzeitgemäßen» Schrift «Richard Wagner in Bayreuth», die dem Heros doch einigermaßen, wenn auch schon ein wenig gebrochen, Tribut zollte – die Schrift sei ein Selbstbekenntnis, sagt er später, an allen psychologisch entscheidenden Stellen sei nur von ihm die Rede und nicht von Wagner –, verraten seine nachgelassenen Notizen vom Frühjahr/Sommer 1874 eine kritische Distanz, stellenweise Sarkasmus, die auf das vierzehn Jahre später verfasste Pamphlet «Der Fall Wagner» vorausdeuten. Empfindlichkeiten auf beiden Seiten begünstigten diese innere Ablösung: Nietzsche schlug Einladungen der Wagners aus, machte sich rar, reizte den Heros gar, indem er ihm provozierend einen Klavierauszug von Brahms’ «Triumphlied» auf den Flügel legte – darauf Wagner: «Ich merkte wohl, Nietzsche wollte uns damit sagen: sieh mal, das ist auch einer, der etwas Gutes machen kann. – Na, und eines Abends bin ich losgebrochen, und wie losgebrochen!» Der sensible und stille, stets höfliche Nietzsche konnte Wagner, dem Polterer, in solchen Momenten wohl wenig entgegensetzen, doch seine Distanznahme reichte viel tiefer und war eine klar ersichtliche Folge
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