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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Appel
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gestaltende plastische Kraft – und hier finden wir auch den Übergang zur Individualpsychologie, zu den Lebens- und Seelengeschichten der einzelnen Menschen über die kollektive Geschichtsschreibung hinaus. «Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben zu können und zu vergessen», schreibt Nietzsche. «Zum Glück wie zum Leben gehört das Vergessenkönnen oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. […] Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. […] Es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zuleben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären, es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur. Um diesen Grad und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der das Vergangene vergessen werden muß, wenn es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen werden soll, müßte man genau wissen, wie groß die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist; ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen.» Das Unhistorische und das Historische, so ein Fazit, sei gleichermaßen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Kultur nötig. Das Unhistorische sei aber immer die ursprünglichere Kraft, da nur aus ihr «etwas Rechtes, Gesundes und Großes, etwas wahrhaft Menschliches erwachsen kann» . Man muss vergessen können – oder man wird in seiner eigenen Geschichte zum Totengräber alles Lebendigen.
    Die Befindlichkeit seines bildungsüberfrachteten Zeitalters drückt Nietzsche sehr drollig im Bild einer Schlange aus, die mehrere ganze Kaninchen verschluckt hat und sich dann still gefasst in die Sonne legt und alle Bewegungen, außer den notwendigsten, tunlichst vermeidet. Unverdaulich ist diese Bildung. Sie bringt lauter wandelnde Enzyklopädien hervor, lauter ängstlich verhüllte Universal-Menschen, die auf Weltausstellungen herumspazieren und einen gigantischen Wissenswust in sich aufnehmen, der ihnen wie Stein im Magen liegt, aber innerlich unfruchtbar ist. «Das Übermaß von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen.» Die beiden Gegenmittel gegen die historische Krankheit sind das Unhistorische und das Überhistorische. Das Unhistorische ist die Vergessenskraft, überhistorisch nennt Nietzsche die Mächte, die den Blick abwenden vom Werden und hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden gibt, Kunst und Religion. «Feuer, Trotz, Selbstvergessen und Liebe» , all die starken Instinkte der Jugend, so auch natürliche und langsame Reifung, müssen wieder ihr natürliches Vorrecht erhalten gegen die Totengräbermentalität dieses Zeitalters, das nur schnell fertige, nützliche und effiziente Staatsdiener züchtet. Manches klingt an in der Schrift, das der spätere Décadence-Philosoph Nietzsche seinen selbsterklärten Erben zur mehr oder weniger problematischen Nachbeschäftigung vorlegen wird: das Selbstverständnis der «Spätlinge» etwa, die nur noch eine ironische Existenz leben können, oder – noch schlimmer – Zynismus, der am Ende die Lebenskräfte lähmt und zerstört. Oder der Nietzsche’sche Elitegedanke von der Sendung herausragender Einzelner: «hohe Geistergespräche» , erhoben über «lärmendes Gezwerge» – der Autor spricht von einer «Genialen-Republik» . Eines aber bleibt vollkommen klar: «Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten» .
    Wie kommt der Denker, der Künstler, der Einzelmensch zu dieser höchsten Kraft seiner Gegenwart? Die Vorstellung jedenfalls, dass die Kunst das Leben zu erlösen vermöge, wird obsolet. In seiner «unzeitgemäßen» Schrift «Richard Wagner in Bayreuth» führt Nietzsche geradezu den Denkübergang vor, wie die Apologetik des dionysischen Künstlers, der einen bewussten Wahn schafft, sich entpuppt als suspekte Ersatzreligion. Und der Vorgang – vor dem Hintergrund des «modernen» Bewusstseins – kann ja auch nicht

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