Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Künstlern, Dichtern und Denkern. Lou, die Kindfrau, blieb bis auf weiteres sexuell unerschlossen und unterentwickelt, und selbst Rée, der Freund, der ihm schließlich bei Lou ins Gehege kam, war im Grunde an Ehe und Fortpflanzung nicht interessiert und äußerte sich auch entsprechend – ob er eine unbürgerliche Variante von Liebesverbindung ins Auge fasste, ist nicht bezeugt. Nietzsche fand jedenfalls immer wieder diverse Gesinnungsgenossen, um seine eigene Idealvorstellung von einer klosterhaften Geistesgemeinschaft, die möglicherweise aus seiner Internatszeit in Schulpforta herrührte, konkret werden zu lassen. Dass etwa Gersdorff mit seinem Liebesleben abtrünnig geworden war, verletzte ihn tief. Auch seine Schwester, ebenfalls schon gut in den Dreißigern, fand offenkundig Genügen an Gesellschaftskontakten mit hinreichend Außenwirkung und Abwechslung, alles direkt oder indirekt mit der Betreuung des großen Bruders und der Teilhabe an seinem Leben verbunden. Die Universitätskollegen von einst waren dagegen in ihren konventionellen Ehen verhaftet, etwa die Over-becks, auf die Nietzsche nichts kommen ließ. Der einzige sexuelle Mensch seiner Biographie, vom Sexus getrieben und im Sexus aktiv, der bezeichnenderweise eine so tragische Rolle in Nietzsches Lebensgeschichte bekam, war Richard Wagner. Dass der potente Künstler, Charismatiker und rücksichtslos die Interessen seines Gesamtkunstwerks verfolgende Großunternehmer es auch noch schaffte, eine mit Frauenaffären gepflasterte Wegstrecke zu hinterlassen und die für Nietzsche vornehmste und anbetungswürdigste Frau, nämlich Cosima von Bülow, halbadelig schon von Geburt, aus einer Ehe zu reißen, was diese zwang, ihre gesamte gesellschaftliche Existenz aufzugeben, trug nicht wenig zu Nietzsches Ressentiment und seiner Distanznahme bei. Es wäre zu blutleer und kurzsichtig, in dieser Abkehr nur Wagners Wendung zum Christentum und die weltanschaulichen Differenzen wirksam zu sehen. «Prinz Vogelfrei» jedenfalls, dem man in Rom die kluge Russin empfahl, der aber noch im äußersten Süden des Landes herumflatterte und sich viel Zeit ließ, das empfohlene kluge Mädchen zu treffen, was diese wiederum umso neugieriger und auch ein wenig unmutig machte, schrieb an Rée: «Grüssen Sie diese Russin von mir wenn dies irgend einen Sinn hat: ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja ich gehe nächstens auf Raub darnach aus – in Anbetracht dessen was ich in den nächsten zehn Jahren thun will brauche ich sie.» «Ein ganz anderes Capitel ist die Ehe» , fügte er sinnend hinzu, «ich könnte mich höchstens zu einer zweijährigen Ehe verstehen» . Schon aus der Entfernung und derart wenigen wechselseitigen Andeutungen wird also klar, was sich da für eine Vorstellung bei dem geplagten und entwurzelten Denker herauszubilden begann, und zwar noch bevor er Lou Salomé persönlich kannte. Er suchte ein geistiges Wesen in seiner Nähe, das mit ihm eine hingebungsvolle Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zu bilden bereit war – nicht wie die männlichen Freunde, die irgendwann abtrünnig wurden, oder sein Eckermann «Peter Gast», den er mit einem falschen Namen versah und in einer Art Selbstsuggestion genialisch erhöhen musste, um ihn aus der Gehilfenrolle in höhere Sphären zu ziehen, sondern jemanden, der wirklich mit ihm ging, der die dornigen Pfade auf seinen Wanderwegen auch aushalten konnte, der sich seinem Werk verpflichtete und seiner Person, der sich von ihm emporziehen ließ und sich gleichzeitig per se auf seiner Höhe bewegte. Er war krank, zeitweise hinfällig und ein wenig verloren im Leben, auf seiner Wanderschaft. Seine Augen waren schlecht. Er brauchte jemanden zum Vorlesen, zum Diktieren, zum Ausbessern, aber das sollte kein reiner Sekretarius sein, sondern jemand, der ihm folgte nach oben, «excelsior» , aus ureigenem Antrieb. Dass er das mit einer Ehe zusammendachte, einer «zweijährigen» , was ohnehin nicht mit den gängigen Begriffen von Ehe konform ging, und im bürgerlichen 19. Jahrhundert schon gar nicht, zeigt, dass er von diesem Zusammenleben schon eine Vorstellung hatte, die er nun irgendwie versuchte, in die sozialen Formen seiner Zeit einzubetten. Es war ein Konstrukt, ein schöner Traum, und er träumte ihn weiter, als er das wirklich erstaunliche Mädchen dann kennenlernte. Aber es zeigt immerhin, dass Nietzsche sehr viel höhere Vorstellungen von einer Lebensgemeinschaft mit einer Partnerin hatte, als es in seiner
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