Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
jener Gedanke, daß das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe.» Diesen Grundsatz im Herzen, könne man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen. Es war eine Beschwörungsformel in Nietzsches geistigem Universum, so wie die Formel von der «großen Gesundheit» , die von der Wirklichkeit dieses Leidenden sehr weit entfernt war. «Prinz Vogelfrei» blieb aber nicht so lange in Sizilien, wie er es eigentlich vorhatte, denn der Scirocco trieb ihn auch von dort wieder fort. Auch war er andernorts neugierig auf ein durchaus irdisches Wesen, das allerdings größere Unruhen in seinem Leben anrichten sollte als ein Märtyrer unter Diokletian. Freund Rée, der ihn in Genua noch besucht hatte und mittlerweile bei Malwida in Rom wohnte, hatte ihm von einer jungen Russin in der Gesellschaft Malwidas berichtet. Nietzsche müsse sie kennenlernen; sie sei ein wirklich erstaunliches Mädchen und wie geschaffen für seinen Denkkosmos, ließ der Freund anklingen. Lou Salomé, damals einundzwanzig, war die Tochter eines russischen Generals hugenottischer Abstammung. In Russland aufgewachsen, hatte sie 1880 nach dem Tod des Vaters ihre Geburtsheimat verlassen, um in Zürich, wo auch Frauen zum Studium zugelassen waren, Religionswissenschaften und Philosophie, Archäologie und Geschichte zu studieren. Ein Lungenleiden hatte sie dann in Begleitung ihrer Mutter gen Süden getrieben. Und so wirkte Malwida von Meysenbug, die nach dem beachtlichen Erfolg ihrer «Memoiren» als erfolgreiche Schriftstellerin in der ewigen Stadt lebte, wieder einmal als Katalysator und Integrationsfigur, indem sie erneut bedeutende junge Menschen zusammenführte und diskret leitete. Lou hatte einen nahezu unstillbaren geistigen Hunger. Dass sie lungenkrank war und die Ärzte ihr damals nur noch wenige Jahre gaben, mag für Nietzsche ihren Zauber noch erhöht haben. Sie war auch auf verblüffende Weise unkonventionell. Lou Salomé gab nichts auf Konventionen und übertrat sie jetzt schon auf Schritt und Tritt. Nietzsche hat im Rückblick geäußert, er habe noch nie ein so schlecht erzogenes junges Mädchen getroffen. Etwas Kindhaftes lag darin; kindhafte Libertinage. Auch dieser Gegensatz wird es dem leisen und höflichen Mann angetan haben – eine Hans Castorp- und Clawdia Chauchat-Konstellation. Lou hatte bereits ein beachtliches philosophisches und kulturgeschichtliches Programm hinter sich, als sie ihr Studium in Zürich begann: Descartes, Leibniz, Pascal, Voltaire und Rousseau, Schiller und Kant, Schopenhauer und Kierkegaard, Erkenntnistheorie, Religionskritik, Logik und Metaphysik. Sie war eine Wahrheitssuchende, die dabei auf ihre Umgebung so wenig Rücksicht nahm wie auf sich selbst, und als erstes hatte sie sich vom Religionsdogma verabschiedet, indem sie mit sechzehn aus der Kirche austrat und es ablehnte, sich konfirmieren zu lassen. Ihre Jugendliebe war der reformierte holländische Gesandtschaftsprediger Hendrik Gillot, der ihr Lehrer wurde und sie quasi aufs Studium vorbereitete, aber den Fehler beging, die zarten Neigungen seiner Schülerin gar zu irdisch fundieren zu wollen. Er wollte Lou heiraten und dafür sogar Frau und Kinder verlassen. Möglicherweise ist er in einer Unterrichtsstunde mit Kniefall und Liebeserklärung sogar handgreiflich geworden. Das schockierte das Mädchen. In ihrem «Lebensrückblick» raunt Lou geheimnisvoll, die fromme Vorgeschichte sei dadurch gleichsam entweiht worden, «die geheimen Reste der Identität von Gottverhältnis und Liebesverhalten» . Die Geschichte hat nachhaltig ihr Liebesverhalten geprägt. Später würde sie sogar eine Ehe eingehen, die unter der Bedingung stand, nie vollzogen zu werden. Spät erst, irgendwann zwischen fünfunddreißig und vierzig, trat sie ins sinnliche Leben ein, kam allerdings dann auch auf den Geschmack. Zu jener Zeit aber, mit Rée und Nietzsche und Malwida in Rom, war sie an dergleichen nicht interessiert, sondern wollte lediglich ihren Freiheitsdrang, geistige Kameradschaft und ihren unbändigen geistigen Hunger ausleben.
Es ist aufschlussreich, dass Nietzsche sich so bevorzugt mit asexuellen Menschen umgab, in Sinnes- und Geistesgemeinschaften, wie sie auch in seinen diversen Männerzirkeln in unterschiedlichen Lebensaltern gegeben waren. Malwida lebte vollkommen asexuell und fand lebenslange Erfüllung in übertragenen Mutterrollen gegenüber Pflegetöchtern, pädagogischen Schützlingen und gestrandeten, psychisch gefährdeten
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