Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
westländisch aufgebauten Zwangszielen hin. Was diese im Westen nicht zu voller Auswirkung kommen ließ, weil in ihnen ein Erzeugnis vergangenen Jahrhunderts gespürt wurde, dem man mit Sehnsüchten unseres Jahrhunderts zu begegnen strebte – das verlieh ihnen im rückständigen Rußland die kolossale Macht aufeinanderplatzender Extreme. Handelte es sich da doch nicht um Änderung von Kulturformen, sondern um die Frage erstmaliger Kulturform für die Gesamtheit überhaupt. Deshalb könnte aber gerade dort, sei’s zu Fluch oder Segen, ein Neues sich aus dem Gewaltruck ergeben, schon durch die Plötzlichkeit der technischen Ermöglichungen wie auch durch die asiatischen Dimensionen ihrer Anwendung. Dem Bolschewismus Rußlands, dem Erben abendländischen Theoriensystems, fließt infolgedessen hier Blut und Inbrunst zu ins trocken und kalt Begriffliche, bis es gar nicht mehr wie Übernahme vom Abendland her ist, bis es sich als Voraussetzung einer neuen Morgenröte vorkommt, zu der Rußland das Universum ganz unnational und ganz irrational einzuladen scheint.» Als Roba, ihr zweiter Bruder, der einstmals so elegante Mazurkatänzer, nach der Oktoberrevolution aus der Krim zurückkehrte, wo er seinen kriegsversehrten jüngsten Sohn hatte beerdigen müssen, fand er sich zu Hause seiner Stellung, Wohnung und seines gesamten Besitzes beraubt, und auf seinem einstmaligen kleinen Landsitz in der Nähe der Hauptstadt war er der Mildtätigkeit seines Hausknechts anheimgegeben, dem das Häuschen zugesprochen worden war, nebst Acker und Zubehör. Der Mann übergab ihm und den Seinen ein wenig Raum auf dem Dachboden und mittags eine Kohlsuppe, wenn er ihm auf dem Acker geholfen hatte. Tagsüber sammelte Roba Pilze und Beeren mit seinen Enkeln, um satt zu werden. Seine Frau sah die Bäuerin ihre Kleider auftragen und bemerkte deren naive Freude daran. Wenn der frühere Herr indes mit dem Knecht von einst nach den Mühen des Tages abends auf der Bank vor dem Hause saß und die Umstürze der Welt mit ihm betrachtete, konnte er nicht umhin, zu bemerken: «Was ist dieser Analphabet klug und freundlich.» Mehr als irgendetwas war auch das Russland, und nur hier, so Lou, konnten solche Umstürze geschehen. Das Unterste wird nach oben gekehrt, eine Umwertung aller Werte auch das. Freilich, es war ein «kolossalisches Experiment» , das hier geschehen war, unwiderstehlich auf terroristische Art. Mit religiöser Werbekraft habe der Bolschewismus sich des russischen Proletariats bemächtigt und sozusagen die Leninlegende über die Christussage gestülpt, eine listige und zweckhafte Ausnutzung eines glaubensfrommen Volkes wie einst im Religiösen mittels der Priesterherrschsucht und Priesterlist. Aber eben diese Glaubensinbrunst russischer Menschheit sei es, die die Umwälzungen möglich gemacht habe, anders als in langsam herangereiften Kulturen, wo die Theorien entworfen wurden, war hier empfangender Boden. Ein Faszinosum, das blieb. Lou Salomé wurde alt genug, um die Umstürze ihrer Zeit und auch Russlands Schicksal noch mitzuerleben, ungeachtet der damaligen Prognosen ihrer Ärzte, als Nietzsche die junge kränkelnde Frau 1882 in Rom traf. Etwas Anarchisches und Elementarisches blieb dem «Erlebnis Rußland» verhaftet, als Teil ihrer selbst und ihres Erlebens der Welt. Eine Lebenskraft aus der Mitte, die sich keine Gesetze von außen erteilen ließ. Auch das «Erlebnis Nietzsche» blieb für Lou Salomé nur eine Durchgangsstation, denn sie musste weitergehen zu ihren eigenen Aussichtspunkten, Stationen und Höhen. Sie hat ein tiefsinniges Buch über Friedrich Nietzsche in seinen Werken geschrieben. Anna Freud äußerte später, Salomés Nietzsche-Buch habe die Psychoanalyse vorweggenommen.
«Friedrich Nietzsche in seinen Werken» erschien noch vor Nietzsches Selbstdarstellung in «Ecce homo», was nicht ganz unerheblich ist angesichts Salomés umgreifender Sicht auf das Gesamtwerk, seine zyklische Form, seine Windungen und zahlreichen Nebenpfade und seinen Angelpunkt, den auch sie im Gedanken der ewigen Wiederkehr sieht. Dass es bei ihm trotz aller Gotteszertrümmerung und Kritik am Christentum auf die Stiftung einer neuen (quasi-)Religion hinauslaufen werde, hat sie ihm schon während der denkwürdigen Gespräche in Tautenburg gesagt, in ihrem für Nietzsche so gehobenen und dann bestürzenden «gemeinsamen» Jahr, und sie erkannte das auf psychologischem Weg. «Die Gottsehnsucht» , heißt es in Salomés Analyse, die 1894 erschien,
Weitere Kostenlose Bücher