Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
unbestechliche, redliche Erkenntniskritiker und Verfasser einer «Kritik der reinen Vernunft» habe diese erkenntnistheoretische Grundlage nur konzipiert, um seine Moralphilosophie daran aufhängen zu können, wie er es im Übrigen ja auch selbst formulierte. In einem gewissen Sinn geht Nietzsche noch weiter als Kant. Die Außenwelt ist nicht das, als was sie uns scheint, sagte der Königsberger. In unserer Wahrnehmung ist sie bedingt durch die Erkenntniskräfte des Menschen. Durch die Brille unserer Subjektivität nehmen wir sie so wahr, wie wir es können. Der erkenntniskritische Philosoph untersucht die Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Denkens und nimmt damit in seiner Theorie der Erkenntnis eine verhältnismäßig bescheidene Aufgabe wahr, während die Moralbegriffe für ihn apriorische Qualität haben, Teil der intelligiblen Welt sind und gleichsam als göttliches Wort über die reine Vernunft rezipiert werden. Für den Moralkritiker Nietzsche, dem all das natürlich indiskutabel ist, sind aber – Kants kritische Theorie übertragend – auch die Handlungen nicht das, was sie scheinen, und in keinem einzigen Fall, so der Moralkritiker, schlug man bisher die Brücke von der Erkenntnis zur Tat. Eine neu ausgerichtete «Leidenschaft der Erkenntnis» müsse ihr eigenes Streben als einen Selbstzweck begreifen, der keine letzten Ziele verfolgt und immer wieder an der Unendlichkeit scheitert. «Luft-Schiffahrer des Geistes» zu sein heißt, ein Leben über den Horizonten zu führen, aber auch keine letztgültigen Wahrheiten mehr zu erwarten. Wer das begriffen hat, der betreibt «fröhliche Wissenschaft». Das Buch, das diesen Titel trägt, hat im Anhang die «Lieder des Prinzen Vogelfrei», die dichterisch größtenteils weniger genial sind als ihre Hauptüberschrift und der Bedeutungsverweis ihrer Motive. «Nach neuen Meeren» geht es, Kolumbus entdeckt unbekanntes und manchmal auch unbetretenes Land (und gelegentlich sind das ja Zufallsentdeckungen), Dichter sind spielende Narren und die Welt nur ein Spiel, bar aller «Wahrheit», doch der Entdecker zieht wagemutig ins offene Meer. Nietzsche hat diese Verse in Sizilien geschrieben, wohin es ihn Ende März 1882 nach seinem zweiten genuesischen Winter in einer spontanen Eingebung zog. Da hatte er es nun also endlich: sein Erlebnis des Südens, den äußersten europäischen Süden, den auch Goethe bereist hatte und der schon so nahe an die Küsten Afrikas reichte. Die Musik von Georges Bizets Oper «Carmen», die er im November erstmals in Genua gesehen und gehört hatte und die er später etwas unmäßig glorifizierend dem Wagner’schen Œuvre entgegenhielt, würde er als «afrikanisch» bezeichnen. Der eine oder andere Biograph hat gemutmaßt, dass es Nietzsche in die berüchtigte homoerotische Kolonie bei Messina zog, dass es die Lustknaben waren, die sein Erlebnis des Südens ausmachten. Aber wie dem auch sei – und es würde ihm heute auch eigentlich niemand verargen –: Der Schwester schreibt er aus Messina, man verwöhne ihn hier, seine Stimmung sei bestens, und der sonst so sorgfältig und reinlich gekleidete Mann «pfeift» sogar auf frische Hemden. Seine Kleidung sei schlicht und schlecht, also heruntergekommen. Er habe aber ein fürstliches Zimmer: 24 Fuß lang und 20 Fuß breit, und für 4 Pfennige kriege er 3 Apfelsinen. Das war tatsächlich D OLCE FAR NIENTE nach Nietzsche’schen Maßstäben: reiner Himmel und keine Anfälle, ein großes Zimmer und drei Apfelsinen. «Friedrich Nietzsche, Messina, Sicilia, poste restante».
Das vierte Buch seiner «Fröhlichen Wissenschaft» widmete Nietzsche, in Erinnerung an einen besonders beschwingten genuesischen Januar, dem Heiligen Januarius, der unter Diokletian als Märtyrer starb und Schutzheiliger der Kathedrale von Napoli war. «Der du mit dem Flammenspeere meiner Seele Eis zerteilt…» , beginnt diese Widmung. Ihr Adressat ist von einem Blutmythos umgeben: geronnenes Blut von seinem abgeschlagenen Haupt, das wieder verflüssigt wird, sobald man es dem Haupt, der Reliquie, nähert. Eine Wiedergeburt. Den Dionysos-Jünger muss dieser Mythos ganz einfach ansprechen. «In media vita!» , so beginnt ein Aphorismus in Nietzsches «Fröhlicher Wissenschaft», die am Ende die «große Gesundheit» ausruft. «– Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr reicher, begehrenswerter und geheimnisvoller – von jenem Tage an, wo der große Befreier über mich kam,
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