Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
ebenbürtigem Fuße. Auch sein Maskenspiel ging in die Endphase. In jedem Gott war auch ein Satyr, und jeder Heros war zugleich ein Hanswurst. Er war ein Décadent, ein Gelehrter, er war der Umwerter aller Werte, Dionysos, Christus und Gott – jedenfalls waren das seine Endworte. An Meta von Salis, genauer gesagt: Frau Dr. Barbara Margareta von Salis-Marschlins, mit der er zwei Sommer in Sils Maria verkehrt hatte – die letzte Begegnung war erst vier Monate her –, schrieb er am 29. Dezember, man behandle ihn in Turin wie einen Fürsten. Mit besonderer Distinktion würden ihm Speisen vorgesetzt und Türen geöffnet. Sobald er einen Raum betrete, verwandelten sich alle Gesichter. Meta von Salis entstammte einer alteingesessenen Bündner Aristokratenfamilie. Auch sie war, wie Malwida von Meysenbug, ihrer familiären Umgebung entflohen, und sie hatte in Zürich studiert, mit dem Abschluss einer historischen Promotion über Agnes von Poitou, die zweite Frau Kaiser Heinrichs III. und langjährige Regentin für ihren unmündigen Sohn. Zu Nietzsches Entgleisungen über Frauen äußerte sie, ein Mann von seiner Gesichtsweite und seiner Gefühlssicherheit habe das Recht, in einem Punkt fehlzugreifen. Da er im Umgang so angenehm war, nahmen sie seine wohlbekannte Auffassung stillschweigend hin, die weiblichen Wandergenossen. Im Gegensatz zu Malwida mit ihrer demokratischen Kampfgesinnung war Meta von Salis eine eingefleischte Aristokratin. Sie verachtete die «Schlammwelle der Demokratisierung» und empfand Nietzsches aristokratische Denkweise als wesensverwandt. Sie konnte sich später nicht überwinden, den geisteskranken Nietzsche in Weimar wiederzusehen, obwohl sie sich häufig dort aufhielt und ihm sogar sein letztes Domizil ausgesucht hatte. Ihre letzte Erinnerung an ihn stammt vom August 1888 in der von Nietzsche erkorenen Philosophenlandschaft im Oberengadin. Er hatte sich gerade von ihr verabschiedet, worauf sie ans Fenster trat und ihm in der Dämmerung nachsah. «Er ging mit leicht nach links gesenktem Kopfe, wie es seine Art war, über die Brücke seiner ‹Höhle› zu.» Folgendermaßen hat sie sein Leben und Denken beschrieben: «Nietzsche liebte die Gefahr, er kannte die entzückenden Offenbarungen im Gefolge schwerer Leiden und scheute vor keiner Tiefe zurück, die ihm eine neue Erkenntnis enthüllte. Er war bereit, sein Leben für seine Ideen einzusetzen, denn diese Ideen bedeuteten für ihn seine Daseinserfüllung. In diesem Sinne konnte er von seinem letzten Schaffensjahre, dem arbeitvollsten von allen, schreiben: ‹Es war zu gut›» .
Diese letzten Bilder vor der Geistesdämmerung eines Großen erlangen eine zeitlose Gültigkeit und ergänzen sich gegenseitig in den Zeugnissen letzter und allerletzter Begleiter. Deussen beschreibt die Veränderung, die mit dem Freund nach vierzehnjähriger Trennung vorgegangen war, als er ihm in dem Schweizer Gebirgsort entgegentrat. Mühsam und leicht nach der Seite hängend, schleppte er sich. Seine früher so fließende Rede war schwerfällig und manchmal stockend; es war auch die Sprache von jemandem, der zu viel allein war und das Kommunizieren fast nicht mehr kannte. Nietzsche zeigte dem Freund seine Kammer und seine Lieblingsplätze im Freien – darunter ein Rasenlager dicht am Abgrund über einem Gebirgsbach, der in der Tiefe brauste: ein hoher Ort stillen Denkens. Zu Tränen gerührt, nahm er am Ende Abschied von Deussen und sprach mehrfach von düsteren Vorahnungen in Bezug auf sein Schicksal, die sich erfüllen sollten, und nur zu bald. Auch Lanzky, der Begleiter in Nizza und Oberitalien, schildert pathetische Abschiedszeremonien, so einmal vor Morgengrauen bei Kerzenschein. Eigentlich war die gemeinsame Weiterreise geplant, aber Nietzsche sagte mit gebrochener Stimme: «Kommen Sie nicht mit: ich muß allein durch Nacht und Nebel … den Ring aller Ringe …» Er umarmte den Freund und stürzte hinaus. Lanzky hat immer die besondere Feinfühligkeit Nietzsches herausgehoben, seine für ihn fatale Neigung zum Mitleid und dass er es nicht einmal fertigbrachte, einem gläubigen Christen oder einem Menschen mit idealistischen Grundüberzeugungen jeglicher Art im Gespräch auch nur etwas entgegenzuhalten. Seiner Meinung nach war es diese Diskrepanz, die ihn umbrachte: das, was er lehrte und dachte, nicht leben zu können. «In Nietzsche war der Dualismus der menschlichen Natur verschärft worden, als er der Kunst entsagte und unter die Philosophen gieng. Er
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