Friesenrache
Lösung, da sie diese als zu riskant einschätzten. Die Frauen isolierten sich immer stärker von ihrer Außenwelt, und der Mann trat ihnen gegenüber ja auch zeitweise durchaus freundlich auf. Das würde die Frauen hin und her reißen zwischen dem Für und Wider einer Trennung.
»Die Opfer sind entscheidungsunfähig und verfügen in den meisten Fällen kaum noch über Selbstwertgefühl.«
Tom nickte, auch wenn er nur ansatzweise erahnen konnte, wie jahrelang erfahrene Gewalt sich auf die Psyche auswirken musste. Er stand auf und goss sich eine Tasse Kaffee ein.
»Wollte Haie nicht vor der Arbeit noch kurz vorbeischauen?« Die Zeiger der Küchenuhr standen bereits auf kurz nach elf, und er wunderte sich, wo der Freund blieb.
Marlene lächelte und erinnerte ihn daran, dass er erst vor einer guten halben Stunde aus dem Bett gekrochen war. Haie war bereits gegen halb acht da gewesen.
»Ich hab gesagt, wir holen ihn zum Mittag ab. Also sieh zu, dass du unter die Dusche kommst. Du weißt doch, Mittag ist bei Haie um zwölf.«
Wenig später wartete Marlene im Flur auf ihn, während er sich noch flüchtig die Reste des Rasierschaums aus dem Gesicht wischte.
»Du wirst immer trödeliger, je älter du wirst«, witzelte sie.
»Du scheinst dir nicht im Klaren darüber zu sein, dass du einen alten Sack heiraten willst«, konterte er und küsste sie rasch, ehe er nach den Autoschlüsseln griff. Es machte den Anschein, als sei der Streit, der sie noch vor wenigen Stunden entzweit hatte, vergessen, als sie eng umschlungen das Haus verließen und zum Auto gingen. Die Sonne schien, und es wehte ein angenehmer Wind, der die würzige Seeluft bis ins Dorf blies und ganz offensichtlich auch die dunklen Wolken, die über ihrer Beziehung gehangen hatten, mit sich nahm.
Nachdem Marlenes Heiratsantrag von Tom angenommen worden war, hatten sie noch einmal über den Streit gesprochen. Er war bemüht gewesen, ihr die Gründe für seine Unehrlichkeit und den Zwiespalt, in dem er sich befunden hatte, als er Marlene kennenlernte, zu erklären. Schon lange hatte er Monika nicht mehr geliebt, aber erst durch die Begegnung mit ihr den Mut gefunden, sich das einzugestehen. Dann aber war er zu feige gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen – aus Angst, sie gleich wieder zu verlieren. Sie war doch der Mensch, den er über alles liebte und mit dem er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Marlene hatte sich bei diesen Worten eng an ihn geschmiegt und dabei geschildert, was in den letzten Tagen in ihr vorgegangen war. Enttäuschung, Angst, Wut – all diese Empfindungen hatten ihr Vertrauen in ihn nach Monikas Anruf total ausgeblendet. Sie war nicht mehr in der Lage gewesen, rational zu handeln. Ihre Gefühle hatten das Steuer übernommen. Und als ihr letztlich bewusst geworden war, wie übertrieben sie auf den Vorfall reagiert hatte – ihm nicht einmal die Chance zu geben, ihr die Angelegenheit zu erklären –, da hatte sie sich für ihr Verhalten geschämt und sich nicht getraut, ihn anzurufen. Wenn Haie nicht die Initiative ergriffen und sie um ihr Kommen gebeten hätte – wer wusste, wie lange dieser blöde Streit sie noch entzweit hätte.
Marlene zog Tom noch einmal fest an sich und küsste ihn, ehe sie in den Wagen stiegen.
Der Freund wartete bereits ungeduldig auf dem Parkplatz, als sie kurz nach zwölf Uhr die Risumer Grundschule erreichten.
»Da seid ihr ja endlich.«
»Hast schon wieder Hunger, was?« Tom grinste.
»Was heißt hier schon wieder? Ich bin schließlich schon seit sechs Uhr auf den Beinen«, verteidigte sich Haie.
Zu ihrem Erstaunen schlug er jedoch vor, noch einmal zum Haus des ehemaligen Schulkollegen im Herrenkoog zu fahren, anstatt in einer Gastwirtschaft zum Mittagessen einzukehren.
»Was willst du denn da?«
»Ein bisschen umsehen«, antwortete Haie auf Toms Frage. Er hatte sich den Vormittag über mit dem Gedanken beschäftigt, ob es nicht möglich war, dass die Polizei bei der Hausdurchsuchung vielleicht irgendwelche wichtigen Hinweise übersehen hatte. Immerhin hatten sie die Tote nicht persönlich gekannt. Da bewertete man sicherlich so manche Kleinigkeit ganz anders, als wenn man einen persönlichen Bezug zu den Opfern gepflegt hatte. Obwohl, das allein war es nicht, was Haie zu dem Haus des ermordeten Landwirts trieb. Immerhin war auch sein Kontakt zu den Carstensens zumindest in der letzten Zeit nicht besonders intensiv gewesen. Es war
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