Friesenrache
ergeben. Zwar entlastete diese Tatsache den Sohn des ermordeten Landwirts, aber Thamsen sah darin immer noch keinen ausreichenden Beweis für die Unschuld des Verdächtigen. Möglicherweise hatte Ulf Carstensen keine Spuren hinterlassen, hatte Handschuhe und Schutzkleidung beim Entsorgen der Leiche getragen. Oder aber, und das hielt er für durchaus wahrscheinlicher, es war ihnen nicht möglich gewesen, an den Überresten des arg zugerichteten Leichnams alle Hinweise auf den Täter zu sichern.
Weiterhin bestätigte die kriminaltechnische Untersuchung die Echtheit des von Sophie Carstensen verfassten Geständnisses. Der Schriftsachverständige hatte die Buchstaben unter dem Mikroskop vergrößert und untersucht. Brüche oder Unterbrechungen im Schwungsatz der Schrift hatte er keine entdecken können. Seines Erachtens war das Schriftstück von der Toten eigenhändig verfasst worden.
Aber auch das entlastete den Sohn für Thamsen nicht, denn wie er selbst mutmaßte, war es gut möglich, dass Sophie Carstensen davon ausgegangen war, Ulf habe seinen Vater ermordet. Um ihn zu schützen, hatte sie alle Schuld auf sich genommen.
Thamsen klappte die graue Aktenmappe wieder zu. Er war der Meinung, es sei am besten, an seiner Theorie, der zufolge der Mörder auf jeden Fall innerhalb der Familie zu finden war, festzuhalten. Durch den Besuch von Irmtraud Carstensen fühlte er sich darin noch zusätzlich bestärkt. Denn auch sie ging davon aus, dass der Mord an ihrem Schwager durch die Misshandlungen an dessen Frau motiviert gewesen war. Außerdem hielt sie es für durchaus denkbar, ihr Ehemann könne den eigenen Bruder deswegen umgebracht haben.
Er bot ihr an, sie nach Hause zu fahren. Bei der Gelegenheit konnte er sich gleich einmal persönlich mit Friedhelm Carstensen über das Thema unterhalten. Er war gespannt, was der zu der ganzen Sache zu sagen hatte.
Die Fahrt ins Dorf verlief schweigsam. Irmtraud Cars tensen saß stumm auf dem Beifahrersitz und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen. Sie war am Morgen mit dem Bus nach Niebüll gekommen, da sie sich vor lauter Aufregung nicht hinters Steuer getraut hatte. Thamsen nahm an, sie ängstigte sich vor dem Zusammentreffen mit ihrem Mann. Immerhin wusste dieser vermutlich nichts von dem Verdacht, den seine Frau gegen ihn hegte, und dass sie deswegen bei der Polizei gewesen war. Als er den Wagen vor dem kleinen Backsteinhaus stoppte, löste sie eilig den Sicherheitsgurt und stieß die Tür auf.
»Vielen Dank«, flüsterte sie, ehe sie ausstieg und zum Haus hinaufhastete. Thamsen stellte den Motor ab und verließ das Fahrzeug ohne Eile. Irmtraud Carstensen suchte vor der Haustür in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. Er hatte sie eingeholt, bevor sie fündig geworden war. Erschrocken drehte sie sich um, als er hinter sie trat.
»Was wollen Sie?«, zischte sie ihn an.
»Ich möchte mich mit Ihrem Mann unterhalten.«
Es war ihr deutlich anzusehen, wie sehr sie unter Strom stand. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr folgen würde. Wie stand sie nun da? Ihr Mann würde sofort Verdacht schöpfen, wenn sie mit dem Kommissar im Schlepptau nach Hause kam.
»Gehen Sie bitte«, flehte sie förmlich. »Das Gespräch zwischen Ihnen und mir war vertraulich.«
Er nickte. »Aber trotzdem geht es hier um Mord. Deshalb würde ich gerne erfahren, was Ihr Mann zu den von Ihnen vorgebrachten Anschuldigungen zu sagen hat.«
»Ich habe doch Friedhelm nicht …« Sie verstummte schlagartig, als unerwartet die Tür geöffnet wurde. Friedhelm Carstensen stand vor ihnen und blickte fragend vom einen zum anderen.
»Was ist mit mir?«
Irmtraud Carstensen schluckte, doch Thamsen ergriff sofort die Gelegenheit, dem überraschten Mann, der in Jogginghose und Unterhemd vor ihnen stand, zu erklären, dass er gekommen sei, um ihm ein paar weitere Fragen zu stellen.
Friedhelm Carstensens Gesichtsausdruck verfinsterte sich von einer Sekunde auf die andere. Mit düsterem Blick musterte er seine Frau und unterstellte ihr allein damit, der Auslöser für die neuerliche Befragung der Polizei zu sein.
»Und wo kommst du her?«
Seine Frau zwängte sich schweigend an ihm vorbei ins Innere des Hauses und entledigte sich dort ihres beigen Sommermantels, den sie auf einen der Bügel an der Garderobe hängte. Nervös zupfte sie ein paar nicht vorhandene Fusseln vom Stoff des Kleidungsstückes und schwieg weiterhin
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