Friesenrache
Thamsen war wieder einmal erstaunt über den gut funktionierenden Informationsfluss im Dorf. Hier blieb wohl nichts verborgen.
»Und da gab es keine Eifersüchteleien?«, fragte er nach ihrer Reaktion auf die Auskunft der Dame vom SPAR-Markt.
Irmtraud Carstensen schüttelte den Kopf. Sie seien ja so glücklich gewesen. Da hätte es keinen Grund zur Eifersucht gegeben. Sie habe dem Gerede nicht viel Bedeutung beigemessen.
»Im Dorf wird viel getratscht«, verlieh sie ihrer angeblichen Gleichgültigkeit über das einstige Interesse ihres Mannes an der Schwägerin Nachdruck. Im Zusammenhang mit den Misshandlungen und dem gewaltsamen Tod ihres Schwagers sei ihr die Tatsache jedoch wieder in den Sinn gekommen.
»Sophie ist Friedhelm nicht egal gewesen. Immerhin hat er ja wohl durchaus einmal mehr für sie empfunden. Unter Garantie hat er Kalli zur Rede gestellt.«
»Und?« Thamsen ahnte langsam, worauf Irmtraud Carstensen hinaus wollte.
»Ich vermute, dass …«, sie machte eine kleine Pause. Die Luft in seinem Büro schien plötzlich unter Strom zu stehen. Es lag eine Spannung in der Luft, die es ihm beinahe unmöglich machte, ruhig und mit gelassenem Gesichtsausdruck auf ihre Ausführungen zu warten. Sein Blick haftete an ihren Lippen, die sich langsam öffneten, um den Satz endlich zu beenden.
»Moin Dirk«, ein Kollege polterte ohne anzuklopfen in sein Büro und warf einen hellbraunen Umschlag auf seinen Schreibtisch. Verdutzt blickte Thamsen auf den Eindringling, der statt einer Entschuldigung für die Störung des Gesprächs lediglich eine Rechtfertigung für diese hervorbrachte.
»Das sind die Ergebnisse aus der KTU.«
»Danke.« Die Tonlage, in welcher Thamsen dem anderen seine aus fünf Buchstaben bestehenden Antwort nur so entgegenschleuderte, machte diesem unmissverständlich deutlich, dass er zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt in den Raum geplatzt war. Ohne ein weiteres Wort verließ er deshalb das Zimmer und schloss lautlos die Tür hinter sich.
Als Thamsen sich wieder seiner Gesprächspartnerin zuwandte, presste diese jedoch nur noch ihre Lippen zu einem schmalen, grellroten Strich zusammen.
Marlene hatte bis tief in die Nacht in dem dicken Fachwälzer geblättert, und auch als Tom noch reichlich verschlafen die Küche betrat, saß sie bereits wieder am Küchentisch und las interessiert, was in dem Buch über die Hintergründe zum Thema Misshandlung zusammengefasst war.
»Neue Erkenntnisse?«, fragte er und küsste sie zärtlich.
Sie blickte von ihrer Lektüre auf. In ihren Augen spiegelte sich Fassungslosigkeit über das Gelesene wider.
»In Europa wird schätzungsweise jede fünfte Frau im Laufe ihres Lebens Opfer von Gewalt seitens ihres Ehemannes oder Lebenspartners. Jede Woche wird eine Frau von ihrem Partner umgebracht. Die häufigste Todesursache bei Frauen zwischen 14 und 45 Jahren ist familiäre Gewalt. Die Dunkelziffern dürften weitaus höher liegen«, fasste Marlene die schockierenden Informationen trocken zusammen.
Tom schluckte und setzte sich zu ihr an den Tisch. Er hatte sich ebenso wie seine Freunde mit diesem Thema überhaupt noch nicht auseinandergesetzt und war mehr als bestürzt über diese Zahlen. Natürlich hatte er von Fällen häuslicher Gewalt gehört, doch er hatte nicht geahnt, dass in so vielen Ehen und Beziehungen Gewalt anscheinend an der Tagesordnung war.
»Dann hat die Frau von Kalli Carstensen wahrscheinlich nur Glück gehabt, dass sie die gewalttätigen Übergriffe ihres Mannes überlebt hat«, versuchte er, seine Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen. »Ich verstehe nur nicht, warum die Frauen überhaupt bleiben.«
Doch auch darauf hatte Marlene eine Antwort in der Fachliteratur gefunden. Es gäbe eine Menge Erklärungen für das Bleiben der Misshandelten, erläuterte sie ihm die in dem Buch dargelegten Theorien. Ein Modell für die emotionale Bindung von Frauen an gewalttätige Partner bilde das ›Stockholm-Syndrom‹. Schwer misshandelte Frauen zeigten häufig die gleichen Reaktionen wie Opfer einer Geiselnahme. Das sei nicht weiter verwunderlich, denn auch bei häuslicher Gewalt sei das Leben des Opfers bedroht und der Täter habe die Macht, diese Drohung auszuführen. Die Frauen glaubten häufig, der Gewalt des Partners nicht entkommen zu können. Nicht selten wären auch andere Familienmitglieder, insbesondere die Kinder, in Gefahr. Eine Flucht war deshalb für die Opfer keine
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