Friesenrache
meist weg, versuchen, sich zu verstecken, und – dieser Umstand ist anscheinend bezeichnend für Kinder aus derartigen Familien – ziehen meist sehr früh aus und pflegen nur sehr beschränkten Kontakt zu ihrem Elternhaus«, schloss Marlene ihren kleinen Vortrag.
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und blickte die beiden Männer an.
»Demnach ist Ulf nicht der Täter.« Es war Tom, der dieses Resümee aus ihrer Zusammenfassung zog.
»Das steht hier nicht«, stellte sie richtig. »Aber von diesem fachlichen Blickwinkel aus betrachtet, kann man gegen ihn nicht unbedingt einen stärkeren Verdacht hegen als gegen irgendjemand anderen. Ich denke, wir sollten nicht auch den Fehler begehen, uns nur auf den Sohn als möglichen Mörder zu fokussieren.«
»Aber die Misshandlungen sind doch ein starkes Motiv«, bemerkte Haie.
»Schon«, bestätigte Marlene, »aber vielleicht gibt es ja auch noch jemand anderen, der Sophie Carstensen aus dieser qualvollen Situation befreien wollte.«
18
Als Thamsen am nächsten Morgen die Dienststelle betrat, informierte sein Kollege ihn, dass eine Frau in seinem Büro auf ihn warten würde. Auf seine Frage nach dem Namen der Besucherin zuckte er nur mit den Schultern.
»Sie will nur mit dir sprechen, hat sie gesagt.«
Zu seinem Erstaunen saß Irmtraud Carstensen auf einem der Holzstühle vor seinem Schreibtisch. Als sie ihn sah, sprang sie auf und begann, sofort aufgeregt auf ihn einzureden.
»Ulf hat mit dem Tod von Kalli nichts zu tun! Glauben Sie mir, er hat seinen Vater nicht umgebracht!«
Thamsen blickte auf die hagere Frau, die sich anlässlich ihres Besuches anscheinend sorgfältig zurechtgemacht hatte. Sie trug einen dunkelblauen Faltenrock, dazu eine helle Bluse. Ihren beigen Sommermantel hatte sie ordentlich zusammengefaltet über die Lehne des Stuhls gelegt. Ihre Haare sahen frisch frisiert aus, sie hatte sogar etwas Lidschatten und Lippenstift aufgelegt.
Er wehrte ihren Redeschwall mit erhobener Hand ab, während er neben sie trat.
»Nun mal ganz langsam«, versuchte er, die aufgeregte Irmtraud Carstensen zu beruhigen. Er trat auf die andere Seite seines Schreibtisches und forderte sie durch ein Kopfnicken auf, Platz zu nehmen. Anschließend tat er es ihr nach und wartete neugierig auf eine Erklärung.
Doch der Redefluss der Frau schien plötzlich versiegt zu sein. Mit gesenktem Kopf saß sie vor ihm und betrachtete angestrengt ihre Fingernägel. Ganz offensichtlich hatte der Mut sie verlassen.
»Woher wissen Sie überhaupt, dass Ulf verdächtigt wird?«, startete er den Versuch, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Er vermutete, der Verdächtige selbst hatte ihr von den Anschuldigungen gegen ihn berichtet, dennoch fragte er sich, was die Tante dazu bewogen hatte, ihn aufzusuchen und Ulfs Unschuld zu beteuern. Seiner Ansicht nach steckte da mehr dahinter als ein bloßes Parteiergreifen für den Neffen. Hatte Irmtraud Carstensen eventuell sogar einen begründeten Verdacht, wer der Mörder ihres Schwagers war?
Die ihm gegenübersitzende Frau bestätigte seine Vermutung, dass Ulf Carstensen ihr persönlich von der Annahme der Polizei, er habe etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun, berichtet hatte. Selbstverständlich hatte er auch ihr gegenüber immer wieder bestätigt, nichts mit dem Mord zu tun zu haben. Und sie glaube ihm.
»Aber Ihr Neffe hat nun mal ein äußerst starkes Motiv«, hielt er den Unschuldsbeteuerungen entgegen.
»Schon«, bestätigte sie. »Was der Junge all die Jahre mitgemacht haben muss. Und Sophie erst.« Sie stöhnte leise auf, tat, als hätte sie erst jetzt von den Misshandlungen erfahren. Das jedoch kaufte Thamsen ihr nicht ab. Im ganzen Dorf hatte man, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, über die gewaltsamen Übergriffe Kalli Carstensens gegen seine Frau gesprochen. Die Familie hatte unter Garantie davon gewusst. Provokativ fragte er sie nach Sophie Carstensens Martyrium.
»Geahnt habe ich es, aber sicher war ich mir nicht.«
Das klang ehrlich. Dennoch fragte er sich, warum sie zu ihm gekommen war? Nur, um den Neffen in Schutz zu nehmen? Um seine Unschuld zu beteuern? Hatte er sie vielleicht sogar geschickt? Steckte die Familie womöglich unter einer Decke? Oder hegte sie einen anderen Verdacht?
»Frau Carstensen, was macht Sie denn so sicher, dass Ulf nichts mit dem Mord an seinem Vater zu tun hat?«
»Er hat es mir versichert.«
Das hatte
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