Friesenschnee
Kissen zurück. »Helge. Du bist das größte Miststück, das ich jemals in meinem Leben kennengelernt habe«, hämmerte Angelika schon wieder auf ihn ein. »Dabei warst du der einzige Mann, dem ich jemals vertraut habe. Mein größter Wunsch in meinem Leben wäre, dich niemals gekannt zu haben.«
Das saß. Stuhr schreckte endgültig hoch und saß aufrecht schweißgebadet im Bett. Das waren seinerzeit tatsächlich die letzten Worte, die er von ihr vernommen hatte. Anschließend war Funkstille, obwohl er bisweilen noch versucht hatte, vorsichtig Kontakt mit ihr aufzunehmen. Allerdings umhüllte sie seitdem eine Mauer des Schweigens. Er wusste bis gestern Morgen nicht einmal, wo sie lebte.
Stuhr wurde jetzt von dem Zug abgelenkt, der fahrplanmäßig auf die Mole rollte, um die Fahrgäste der nahenden Fähre aufzunehmen. Die auf dem Hafengelände lungernden Menschen strömten zu ihren Fahrzeugen. Auch er setzte sich in Bewegung, um mit seinem alten Golf über den Brückenausleger auf die Fähre zu gelangen. Bereits beim Anspringen der Schiffsmotoren stiegen tief sitzende Erinnerungen an Angelika in ihm hoch, denn auf der Insel Föhr hatten sie zu allen Jahreszeiten schöne gemeinsame Momente verlebt, während die Zeiten in Bonn mit ihr stets katastrophal für ihre Beziehung waren. Zum Schluss hatte er nur noch das Gefühl, dass sie ihn loswerden wollte. Immer weiter hatte sie ihn aus ihrem Leben gedrängt.
Fast zeitgleich bekam er zunehmend Ärger im Dienst, bis er schließlich eine Regelung angeboten bekam, durch die er frühpensioniert werden konnte. Für die Kollegen galt er als entsorgt. Wie ein begossener Pudel musste er damals aus seinem Büro schleichen.
Es begann eine harte Zeit für ihn, denn das Herumlungern in Baumärkten und das Anstellen von Preisvergleichen in Supermärkten zählten nicht zu seinen Stärken. Er musste sich selbst neu erfinden. Nur schwer kam er langsam wieder auf die Füße. Das war nun alles mehr als ein halbes Jahrzehnt her, aber das unbestimmte Gefühl, dass er letztendlich wegen Angelika aus dem Dienst scheiden musste, das hatte ihn nie verlassen.
Richtig, er wollte deswegen heute bei Dreesen in der Staatskanzlei anrufen. Er zog sein Handy aus der Tasche. Achtmal musste das Telefon am anderen Ende der Leitung anschlagen, bevor abgenommen wurde.
»Oberamtsrat Dreesen, Staatskanzlei. Was kann ich für Sie tun?«, sprach ihn eine unerwartet freundliche und hilfsbereite Stimme an.
»Moin, Dreesen, Stuhr am Apparat. Was ist denn mit dir los? So kenne ich dich gar nicht. Hast du auf einmal die Bürgerfreundlichkeit entdeckt?«
Wie immer, wenn Stuhr versuchte, Dreesen positive Absichten zu unterstellen, dann raubte der ihm sofort jegliche Illusion.
»Stuhr, spinnst du etwa? Du kennst mich doch. Nein, das liegt einzig und allein im Machtwechsel bei uns begründet. Nach der Wahl haben sich in der Staatskanzlei die politischen Verhältnisse verändert. Liest du denn keine Zeitung mehr?«
Natürlich hatte Stuhr stets den landespolitischen Teil der Kieler Rundschau besonders aufmerksam verfolgt, aber seitdem er mit Jenny zusammen war, kam er nur noch die Woche über zur ausgiebigen allmorgendlichen Lektüre. Am Wochenende nahm er lediglich die Schlagzeilen am Kiosk zur Kenntnis. Er würde in dieser Beziehung mit Jenny noch die eine oder andere Stellschraube zu seinen Gunsten justieren müssen. Doch zunächst galt es, Dreesen eine angemessene Antwort zu verpassen. »Was soll der Quatsch, Dreesen? Natürlich lese ich genau wie du unser Käseblatt, und gewählt habe ich natürlich auch. Ich habe sogar mitbekommen, dass unser neuer Landesvater euch zunächst einmal Heulen und Zähneklappern angekündigt hat. Vom Armenhaus Schleswig-Holstein hat er gesprochen. Deswegen hat mich deine Freundlichkeit am Telefon schon verwundert.«
Am anderen Ende der Leitung stöhnte Dreesen auf. »Mensch, Stuhr, lass gut sein. Heulen und Zähneklappern, wenn ich das nur höre, da kommt mir der kalte Konfirmationskaffee hoch. Trotz aller Spar-Appelle der neuen Regierung wird bei uns gerade der alte Teppich herausgerissen, damit der neue Filz eingebracht werden kann. Zudem bekommen alle umlaufenden Gerüchte zurzeit Beine. Das ist eine schlimme Zeit für die Verwaltung. Als ehemaliger Referatsleiter weißt du, dass man sich in solchen Zeiten in das Mauseloch verkriechen muss, bis die neuen Regierenden endlich ihre Linie gefunden haben. Und das kann dauern.«
Das konnte Stuhr nachvollziehen, denn er
Weitere Kostenlose Bücher