Friesenschnee
entdecken. Vorsichtig lugte Stuhr auf die Bühne, aber außer dem nervös tanzenden Kegel eines Scheinwerferlichtes, der auf bestimmte Positionen ausgerichtet und danach einprogrammiert wurde, war niemand zu entdecken.
Umso mehr erschreckte ihn, dass er völlig unerwartet von hinten gepackt wurde. »Hände hoch, Polizei!« Stuhr riss sofort die Arme hoch, doch wenig später schälte sich grinsend ein Bühnenarbeiter aus dem Vorhang. »Hi, ich bin der Marek. Grüß dich. Ich weiß Bescheid, Jerzy hat mir von dir erzählt. Du weißt doch, am Theater wird immer ein wenig übertrieben. Das musst du noch lernen.«
Erleichtert ergriff Stuhr die breite Hand, die die seine sofort heftig schüttelte. Augenzwinkernd lockerte Marek den Griff. »Ich wusste gar nicht, dass die Polizei in Deutschland Zivilisten ermitteln lässt.«
Stuhr stellte sich seinerseits kurz vor. »Ermitteln ist übertrieben. Ich ziehe sozusagen Erkundigungen ein, nicht mehr.«
Den Bühnenarbeiter interessierte das wenig. »Der Job hier ist eigentlich ganz einfach. Bei den Proben notiere ich mir, was ich während der Vorstellung zu erledigen habe. Den Rest flüstert mir Jerzy in den Ohrhörer. Ansonsten musst du nur aufpassen, dass du im abgedunkelten Bereich bleibst, damit du nicht vom Publikum gesehen wirst.«
Das konnte ja nicht weiter schlimm werden, sagte sich Stuhr.
Marek wies plötzlich auf die andere Seite der Bühne. »Der Jerzy verlangt nach dir. Jetzt kannst du ruhig direkt über die Bühne gehen, wir machen Pause.«
Vorsichtig lugte Stuhr in den Zuschauerraum, in dem sich die Komödianten der Theatertruppe ›MischMasch‹ in loser Form über die Sitze gelümmelt hatten. Jenny war nicht dabei. Stuhr entschied sich, doch lieber hinter der Bühne zurück zu Jerzy zu gehen.
Als er sich dem Inspizienten näherte, drückte der auf dem Pult verschiedene Knöpfe. »Es sieht auf den ersten Blick schwierig aus, aber die Bedienung ist einfach. Mit dieser Taste rufe ich die Beleuchtung auf, und gleich daneben liegt der Schalter für den Ton. Die Kollegen von der Beleuchtung und vom Ton speichern alles digital und fahren es morgen während der Vorstellung ab. In der darunterliegenden Reihe kannst du mit den Schiebern die Vorhänge einzeln fahren. Im Übrigen ist auf meinem Inspizientenpult alles beschriftet. Früher in Polen habe ich die Beschriftungen stets entfernen müssen, damit mir niemand den Arbeitsplatz streitig machen konnte.«
Unvermittelt erhob sich Jerzy. »Wir haben jetzt Pause, da kannst du schon einmal ein bisschen mit den Knöpfen spielen. In 30 Minuten geht es dann weiter.«
Kaum hatte Jerzy das letzte Wort ausgesprochen, da eilte er mit hastigen Schritten auf die Stahltür des Bühnenausgangs zu. Stuhr setzte sich notgedrungen auf den angewärmten Hocker. Die Pultknöpfe interessierten ihn herzlich wenig, doch von diesem im Dunkeln stehenden Platz aus konnte man wunderbar die gesamte Bühne mitsamt dem vorderen Teil des Zuschauerraums überblicken, ohne selbst gesehen zu werden.
Die Schauspieler waren offenbar uneins, welche Szene als Nächstes gespielt werden sollte. Dann stellte sich Lollo auf einen der wackligen Klappstühle und begann ungefragt, Halbedels Hamlet-Monolog vorzutragen. An der Vokalakrobatik musste er noch feilen, aber immerhin war er textsicher.
Unerwartet drehten sich nun die Köpfe der Schauspieler zum Einlass um, denn jetzt schritten Jenny und ein hünenhafter Kerl den Gang zum Orchestergraben hinunter wie Madame de Pompadour nebst königlichem Freier.
Stuhr fluchte leise vor sich hin. Warum konnte Jenny sich nicht einfach auf ihre vier Buchstaben setzen und Stuhr helfen, die Theatertruppe unter Beobachtung zu halten? Musste sie ihn immer wieder provozieren?
Jenny und ihr Galan passierten ihre Schauspielkollegen, doch als sie die Bühne erklimmen wollten, sprang Stuhr hektisch von seinem Inspizientenplatz auf und versperrte ihnen am Bühnenrand den Weg. »Nein, nein. So geht das nicht. Als Nächstes ist Lollo mit seinem Hamlet-Monolog an der Reihe.«
Jenny quittierte das mit einem erstaunten Blick.
Lollo dagegen sprang entzückt von seinem Klappstuhl und drängte sich an Jenny und ihrem Begleiter vorbei auf die Bühne, nicht ohne Stuhr ein Küsschen auf die Wange zu hauchen. »Danke, mein Retter. Darf ich anfangen?«
Der Lichtkegel stand fest ausgerichtet, und Jerzy würde noch länger wegbleiben. Warum also nicht?
Retter, Held. Was war er nicht alles!
Stuhr nickte kurz und eilte zum Pult
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