Frisch geküsst, ist halb gewonnen
zurechtzufinden, wenn nur ihre Erinnerung und ihre anderen Sinne da waren, um sie zu leiten. Sie fürchtete, über etwas zu stolpern oder in ein tiefes Loch zu fallen – auch wenn es bisher keine tiefen Löcher auf der Ranch gegeben hatte. Plötzlich erschien der Gebrauch eines Blindenstockes durchaus sinnvoll.
Als sie näher kam, leitete der Geruch von Heu und von Pferden sie in die richtige Richtung. Die Zusammensetzung des Bodens wurde eine andere. Sie spürte es bei jedem Schritt und wusste, dass die Erde hier von zahllosen Hufen platt getrampelt worden war. Sie hob ihren Arm, um das Gebäude zu erfühlen, und stieß drei Schritte später gegen die Wand.
„Wie machst du das?“, fragte sie Rita, sobald sie am Eingang zum Stall angekommen war. „Wie findest du heraus, wo die Sachen sind und wo du bist?“
„Übung. Meine anderen Sinne helfen mir.“
„Ich bin fast die ganze Zeit über panisch vor Angst“, gab Izzy zu und setzte sich auf die Bank. „Letzte Nacht hatte ich meine erste Panikattacke.“
„Wie war es?“
„Nichts, was ich noch mal erleben möchte.“
Rita setzte sich zu ihr. „Es ist nur eine Woche, Kleine. Das schaffst du. Sieh es einfach als charakterstärkende Übung.“
„Mein Charakter hat mir bisher eigentlich ganz gut gefallen.“
„Aber jetzt wird er noch besser.“
„Oh, welche Freude.“
Sie wusste, dass mehr auf dem Spiel stand als nur ihr Charakter. Da lauerte die Möglichkeit, dass die Operation nicht funktioniert hatte. Dann würde sie für immer in der Dunkelheit leben. Kein Gedanke, der meine Stimmung hebt, ermahnte sie sich.
„Ich kann nicht reiten“, sagte sie. „Aber ich kann immer noch die Pferde putzen und bei anderen Sachen helfen.“
„Dann werde ich dich dafür einsetzen.“
„Ich mag es, mit diesen Pferden zu arbeiten. Flower hat einen unglaublichen Einfluss auf Heidi gehabt.“
„Ja, das ist oft so. Zu reiten ist ein Vorgang, der gegenseitiges Vertrauen erfordert. Kinder, die von jemandem betrogen wurden, der sie eigentlich hätte lieben müssen, vertrauen nicht mehr so leicht. Wenn wir mit den Pferden anfangen, baut das ihr Selbstbewusstsein auf.“
„Hast du etwas in dieser Richtung studiert?“
Rita lachte. „Ich habe eine gute Portion gesunden Menschenverstand. Wenn du mich fragst, ist das manchmal besser als die raffinierteste Ausbildung.“
Was ihren eigenen gesunden Menschenverstand anging, war Izzy sich nicht so sicher. „Ich habe in meinem Leben eine ganze Menge dumme Sachen gemacht.“
„Wer hat das nicht?“
„Ich bin mit Haien schwimmen gewesen.“
„Dann bist du tatsächlich dumm.“
Izzy lachte. „Meinst du, das College würde mir helfen?“
„Es ist ein Muss.“
„Ich bin nie hingegangen. Ich habe die Schule gehasst und konnte es kaum erwarten, sie hinter mir zu lassen. Dann bin ich für ein paar Monate durch Europa gereist, bin zurückgekommen und habe mich der Bergwacht in Colorado angeschlossen. Von da ging es dann langsam immer mehr bergab … im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Ich bin noch nie Skifahren gewesen. Ich weiß, dass es spezielle Programme für Blinde gibt, aber ich hasse die Kälte. Was würdest du denn gerne studieren?“
Izzy zögerte. Nicht, weil sie es nicht wusste, sondern weil die Idee so neu, so zart war, dass sie leicht zerbrechen konnte.
„Psychologie“, sagte sie dann. „Kinderpsychologie. Insbesondere Traumatherapie. Ich will Kindern wie Heidi helfen. Aber wieder in die Schule gehen? Ich weiß nicht, ob ich das kann. Die Schule war nie mein Ding.“
„Du warst bisher ja auch nicht motiviert. Das bist du aber jetzt. Man hört, dass Frauen, die später aufs College gehen, die erfolgreichsten Studenten sind.“
„Ehrlich?“
„Ja. Fang klein an. Geh erst mal auf ein Community College, dann kannst du später immer noch wechseln.“
Community College? Daran hatte Izzy noch nicht gedacht. Aber erst einmal nur zwei Jahre auf eine Schule zu gehen, anstatt vier Jahre auf ein normales College, schien ihr machbar. „Das klingt nach einer guten Idee“, sagte sie.
„Oder du bleibst einfach hier und heiratest Nick.“
Izzy war froh, dass sie saß, fand es aber doof, dass sie Ritas Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. „Was?“
„Du hast mich schon verstanden. Ich mag ja blind sein, aber trotzdem sehe ich doch, was zwischen euch los ist.“
„Aber wir … ich … Was?“
Natürlich war da was zwischen ihnen, aber doch nur, dass sie sich mochten und gemeinsam eine intensive
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