Frischluftkur: Roman (German Edition)
sie an den Tag legen können, nahm ich es hin, eine unsichtbare Freundin zu haben.
»Was soll ich denn machen?« schluchzte ich.
»Das, was ich dir sage.« Und das tat ich, zuerst ein wenig widerwillig, dann mit wachsender Begeisterung. Die Gelegenheit war günstig, denn Ralf war mit meinen Eltern zum Einkaufen gefahren, so dass sie frühestens in einer Stunde wieder zurück sein würden. Zeit genug also, um Gerechtigkeit zu üben.
Zuerst sammelte ich nach Zwos Anweisungen Ralfs Matchbox–Autos zusammen, legte sie auf das obere Backblech im Ofen und stellte ihn auf maximale Hitze. Dann nahm ich mir Ralfs Unterhosen vor, streute ein Gemisch aus Cayennepfeffer und Curry hinein, um sie anschließend wieder fein säuberlich zusammengelegt in seinen Wäscheschrank zu packen. Anschließend griff ich mir einen Edding und bearbeitete damit hingebungsvoll Ralfs Fußballposter, mit denen er sein Zimmer tapeziert hatte. Besondere Aufmerksamkeit schenkte ich seinem Lieblingsposter vom HSV, seinem ganzen Stolz, denn alle Spieler hatten darauf unterschrieben. Nicht genug, wie ich fand: mit schwungvollen Bewegungen malte ich einfach noch ein paar Unterschriften dazu, und weil ich damals nur meinen eigenen Namen in krakeligen Druckbuchstaben schreiben konnte, hatte jeder der Spieler nach vollbrachter Arbeit ein dickes, fettes »Lisa« auf der Stirn stehen. Nach dieser Aktion hatte ich auch die letzten Skrupel verloren – ich war nicht mehr zu bremsen. Zu den Matchbox–Autos, die mittlerweile gut durch waren, packte ich noch Ralfs blöde Grusel–Hörspielkassetten, mit denen er mir immer einen Schrecken einjagte, indem er sie mitten in der Nacht in meinem Zimmer abspielte. Ich schnitt bei all seinen Schuhen die Schnürsenkel ab, spritzte Sprühsahne in seinen vollgepackten Tornister und verarbeitete seine ersten Liebesbriefe, die er wie einen Schatz im Bettkasten hütete, zu Konfetti. Als ich gerade, unterstützt von Zwos begeisterten Ausrufen, anfing, Ralfs Kett–Car in seine Einzelteile zu zerlegen, öffnete sich die Haustür. Was dann geschah, lässt sich in kurzen Worten schildern: Meine Mutter stürzte in die Küche, aus der es verdächtig nach verbranntem Plastik roch, Papa stand einfach nur da und war sprachlos – und Ralf heulte. Unnötig zu erwähnen, dass ich eine Menge Ärger plus Stubenarrest bekam, aber trotzdem fühlte ich mich gut. Ich hatte mich zum ersten Mal in meinem Leben gegen Ralf gewehrt, und das hatte ich Zwo zu verdanken. Von diesem Tag an hat Ralf es kein einziges Mal mehr gewagt, meine Sachen anzurühren. Ja, er behandelte mich mit einem gewissen Respekt, fast ehrfurchtsvoll.
Leider verschwand Zwo sofort nach diesem Ereignis wieder; nachdem sie mir geholfen hatte, mich gegen meinen Bruder zur Wehr zu setzen, gab es offensichtlich keinen Grund mehr für sie, weiter bei mir zu bleiben. Ein paar Wochen lang war ich darüber sehr traurig und redete ständig von Zwo, was meinen Eltern zu denken gab. Ratlos suchten sie mit mir einen Psychiater auf, der irgendetwas von »Überspannte Phantasie« und »Typisches Einzelkindverhalten« faselte. Nach dem Hinweis meiner Eltern, dass ich sehr wohl über einen Bruder verfügte, fiel ihm nichts Schlaues mehr ein. Also schickte er meine besorgten Eltern mitsamt ihrem überspannten Sprössling nach Hause und versicherte, dass sich alles schon von allein regeln würde. Tat es dann auch, denn mit der Zeit verblasste meine Erinnerung an Zwo zusehends, und je älter ich wurde, desto mehr war ich der Überzeugung, mir ihre Anwesenheit nur eingebildet zu haben.
Das änderte sich allerdings vor gut vier Jahren. Damals saß ich allein bei mir zu Hause und frustete bei einer Flasche Rotwein vor mich hin. Nach abgeschlossenem Schauspielstudium jobbte ich zu der Zeit beim Pizzaservice und kam mir alles in allem doch reichlich unterqualifiziert vor. Nicht, dass mir die Arbeit keinen Spaß gemacht hätte, aber irgendetwas in mir sagte mir, dass ich zu Höherem berufen war, als für 15 Mark pro Stunde italienisches Essen durch die Gegend zu kutschieren. Da aber weit und breit kein Engagement als Schauspielerin in Sicht war, musste ich mir eine Alternative überlegen, um halbwegs würdevoll meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nur – mir fiel einfach absolut nichts ein. In dieser schweren Sinnkrise meldete Zwo sich wieder zu Wort: »Na, Häschen, hast du mich vermisst?«
Mein anderes Ich brachte mich auf eine geniale Idee: Ich würde ein Drehbuch schreiben! Nach kurzem
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