Frischluftkur: Roman (German Edition)
nicht glücklich?«
Marlies macht eine wegwerfende Handbewegung. »Das hat nichts miteinander zu tun. Es geht um die Welt, in der wir aufgewachsen sind. All die Orte, die uns was bedeuten, werden verschwinden! Dann werden wir den Badeteich, das Feuerwehrhaus und Knurres Kramerlädchen bald nur noch von vergilbten Fotos kennen. Wir werden heimatlos werden. Der Landfrauenverein, der Schützenverein, die liebevoll angelegten Gärten – alles wird zerstört werden.«
Hanna schluchzt auf. Tina und Petra zittern Tränen der Rührung in den Augen.
Marlies spricht weiter: »Erinnert ihr euch, wie es war, als Zitterkalle mit seinem Trecker im Teich einbrach und Wilma ihn retten wollte? Wo sonst könnte so etwas passieren? Gut, wir mussten erst lernen, uns zu behaupten, und das war nicht immer leicht. Aber haben Monique und ihr Hofstaat uns nicht auch zum Lachen gebracht? Hatten wir nicht mit allen anderen Landfrauen Spaß? Sind wir nicht an ihnen gewachsen? Und wo sonst wäre ich damit durchgekommen, vor lauter Schüchternheit kaum ein Wort zu sagen? Das war nur im Dorf möglich. Das Dorf, das ist doch wie unsere Familie. Mit lauter schrulligen Verwandten, die wir uns alle nicht ausgesucht haben, die wir aber dennoch auf die eine oder andere Weise lieben. Dafür müssen wir kämpfen!«
»Genau!«, ruft Petra. »Wir dürfen uns nicht kaufen lassen.«
»Wir retten das Dorf!«, stimmt Tina ein.
»Ja!«, sagt Hanna. »Aber wie?«
»Wir gehen da jetzt rein und verhindern, dass Walter und Helmut unterschreiben. Na los, los!« Marlies stürmt voran, Tina, Petra und Hanna folgen ihr.
***
Helmut und Walter sitzen am Schreibtisch von Inez von Gravenberg. Fasziniert starren sie die elegante Frau an. Sie würden alles für sie tun: Drachen köpfen, Gärten umgraben, Schaumwein aus ihren Pumps trinken ... Die Fresh&Clean-Dämpfe haben sie willig und gefügig gemacht. Edith nimmt ihnen die Handschellen ab, damit sie die Abtretungserklärungen für ihr Land unterschreiben können. Ohne zu zögern greifen Helmut und Walter nach den bereitliegenden Füllfederhaltern.
Ein grelles »Nein, tut das nicht« dringt von fern an ihre Ohren, aber das scheint aus einer anderen Galaxie zu kommen.
Die Frau mit dem Hütchen und dem Schleier nickt aufmunternd, die daneben – die, die sogar bereit war, Geld für sie auszugeben – auch. Sieht doch nach einem tollen Abenteuer aus, zwei Frauen, für jeden eine, und dann gleich so elegante. Walter und Helmut sind überzeugt, die Fahrkarte ins Paradies gelöst zu haben.
»Halt! Ihr dürft nicht ...« Marlies, Tina, Petra und Hanna stürzen sich auf Walter und Helmut – doch es ist zu spät. Sie haben schon unterschrieben.
Jetzt ist alles verloren.
Inez von Gravenberg schiebt die Papiere auf ihrem Schreibtisch zusammen. »Vielen Dank, meine Herren! Und die Damen? Haben Sie es sich überlegt? Möchten Sie auch unterschreiben?«
»Nein!«, brüllen die vier Landfrauen gleichzeitig. »Sie dürfen das Dorf nicht abreißen!«
»Und ob. Ich werde gleich meinen Bauleiter verständigen.«
»Sie haben sich die Kaufverträge erschlichen. Die sind nicht rechtskräftig«, fällt Tina ein.
»Alles wasserdicht. Ich habe hervorragende Anwälte«, schmettert Inez von Gravenberg den Einwurf ab.
»Sie werden niemals eine Baugenehmigung bekommen«, versucht es Petra.
»Natürlich werde ich das. Ich schaffe Arbeitsplätze. Genau das, was die Region braucht«, flötet die Konzernchefin. »Man wird mich lieben.«
»Man wird Sie hassen!«, droht Hanna.
Im Gesicht ihres Gegenübers verändert sich etwas. »Ist mir egal! Ich hasse alle Dorfbewohner!«, zischt Inez von Gravenberg. Verbitterung und Erschöpfung liegen in ihrer Stimme. Sie fingert in ihrer Schublade nach einer Möhre für Mümmel, der sich irritiert in das Modell des Thalasso-Tempels zurückgezogen hat.
Den Landfrauen fallen keine Argumente mehr ein. Irgendwann muss ja auch Schluss sein mit den rationalen Betrachtungen dieses Wahnsinns. »Wir werden Sie stoppen!«, rufen sie in letzter Verzweiflung.
Inez von Gravenberg greift zum Telefon. Sie will ihren Bauleiter anrufen, das Startsignal für Bagger und Abrissbirnen geben.
Die Landfrauen sehen ihr Dorf schon in Schutt und Asche liegen. Und das ist alles unsere Schuld , denken sie. Wir haben die Geheimnisse des Dorfes dem Feind verraten, wir hatten keinen Respekt vor den anderen, wir wollten alles wissen und haben damit alles kaputt gemacht. Wir haben das Dorf auf dem Gewissen. Weil wir so naiv
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