Frischluftkur: Roman (German Edition)
waren. Weil wir uns nur für unseren Mini-Kosmos interessiert haben. Weil wir Schicksal spielen wollten. Weil wir Göttinnen sein wollten.
»Kein Mensch kann mich stoppen!«, frohlockt Inez von Gravenberg.
»Nein, ein Mensch vielleicht nicht«, sagt eine feine, ein wenig nach Mürbeteig klingende Stimme. »Aber der Wachtelkönig.«
Inez von Gravenberg fällt vor Schreck der Telefonhörer aus der Hand. Dann wird es dunkel. Auf dem Plasmabildschirm sieht man einen possierlichen Vogel, der über eine Wiese stolziert. Dazu doziert die gleiche melodiöse Stimme wie im Well come-Imagefilm: »Der Wachtelkönig hat ein beigefarbenes Gefieder und einen sehr lauten, kratzenden Ruf, um Weibchen anzulocken und das eigene Revier zu kennzeichnen. Der wissenschaftliche Name Crex crex weist lautmalerisch auf die wenig melodiöse Stimme des Vogels hin. Wie viele seiner Verwandten ist der Wachtelkönig in seinem Bestand stark gefährdet ...«
Inez von Gravenberg sucht ihre Fernbedienung, findet diese aber nicht. Sie stolpert, Hut und Schleier verrutschen. Endlich gelingt ihr der Griff nach der Schreibtischlampe, sie knipst die ewige Glühlampe an. »Was zum Teufel geht hier vor?«, ruft sie genervt.
Dann wird sie blass. Das ist gut zu sehen, weil der Schleier, der sonst ihr Gesicht verdeckt, ihr nun im Nacken hängt.
Mitten im Raum stehen fünf ältere Damen: Das Landfrauen-Häkelkränzchen. Wie ungleiche Jacob-Sisters stehen sie da, bereit für ihren großen Auftritt.
Sie sind gut vorbereitet.
»Guten Abend, Hildegard!«, sagt Elsbeth Merken, Wortführerin des Häkelkränzchens, als sie Inez von Gravenberg sieht.
»Ich heiße jetzt Inez«, sagt Hildegard Knuppe alias Inez von Gravenberg.
»Für uns bleibst du aber Hildegard!«
Die Konzernchefin rümpft die Nase. Ist hier wirklich alles so geblieben, wie es immer war? Wird sich hier nie etwas ändern? Ist es dieselbe Hölle, die sie vor Jahrzehnten zurückgelassen hat, die seither vor sich hin blubbert wie ein dicker Eintopf? Es scheint so. Aber damit ist jetzt Schluss!
»Ihr kommt zu spät«, fasst die Konzernchefin kurz ihr Anliegen zusammen. »Das Dorf kommt weg.«
»Das Dorf bleibt!«, erwidert Oma Ellerbrock.
»Wenn du dir die Mühe gemacht hättest, unserem kleinen Filmchen ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken«, meldet sich Gunde Heimrichs zu Wort, »hättest du erfahren, dass es rund um das Dorf eine Wachtelkönig-Population gibt. Der Wachtelkönig, hierzulande auch bekannt als der Wohnungskiller, steht unter Naturschutz. Wo er nistet, darf nicht gebaut werden. Und er nistet eben überall dort, wo du bauen willst. Hier ist das Gutachten.« Sie zieht einen Hefter aus ihrer selbst gehäkelten Handtasche. Das Gutachten stammt von Thomas, ihrem angeblichen Großneffen, ein Biologe und Umweltschützer, den sie über den Naturschutzbund-Stand auf Du & Deine Welt kennengelernt haben.
Der Plan der Konzernchefin zerbröselt vor ihrem inneren Auge. Vereitelt von einem kleinen Vogel, den man so gut wie nie zu Gesicht bekommt und der sich noch nicht mal die Mühe macht, bei drohender Gefahr wegzufliegen.
»Wir wissen schon sehr lange über dein Vorhaben Bescheid. Nette Idee, so ein Wellness-Ressort. Aber nicht hier! Das Dorf bleibt«, sagt Elsbeth Merkens mit fester Stimme.
»Du bist doch auch hier aufgewachsen, das ist doch nicht nur die Heimat des Wachtelkönigs, es ist auch deine Heimat.« Oma Ellerbrock schlägt versöhnlichere Töne an. »Verbindet dich denn gar nichts mehr damit? Du hast es hier nicht immer leicht gehabt. Das lag auch – nein, vielleicht lag es sogar vor allem an uns. Wir haben lange darüber nachgedacht. Es tut uns leid, was damals passiert ist.«
Elsbeth Merkens und die anderen Damen des Häkelkränzchens gucken ebenfalls schuldbewusst.
»Wir hätten netter zu dir sein müssen, auch mal mit dir reden sollen anstatt uns immer über dich lustig zu machen.«
Die Unterlippe der Konzernchefin zittert. Sie sucht nach einer Möhre, sie will Mümmel bei sich haben.
»Wir hätten dir nicht immer die Tanzpartner ausspannen und unanständige Gerüchte über dich verbreiten dürfen«, gibt Gunde Helmrichs zu.
»Die Scherben im Putzlappen, damals, als du nach dem Feuerwehrball beim Aufräumen geholfen hast, das war auch ein bisschen fies. Wir konnten ja nicht ahnen, dass du dir gleich eine Sehne durchtrennst«, fährt Elsbeth Merkens fort. Die Damen des Häkelkränzchens sehen ehrlich betroffen aus. Man hätte ihnen diese Gemeinheiten nie
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