Frischluftkur: Roman (German Edition)
Ulf eigentlich noch ein Cousin gehört, unterschlägt sie, einem spontanen Impuls folgend. »Wir verstehen uns ohne Worte. Er liest mir jeden Wunsch von den Augen ab.« Das steht in den Heftchenromanen, in denen sie immer schmökert, und sie findet die Vorstellung faszinierend. Weiß ja keiner hier, dass Ulf überhaupt nicht liest, weder in ihren Augen noch in irgendetwas anderem.
Verdammt , denkt Petra, diese Wortloses-Verstehen-Nummer hatte sie sich gerade zurechtgelegt.
»Ach, wie romantisch«, pflichtet Tina Marlies bei. »Das klingt ja ein bisschen wie in dem tollen Film gestern Abend auf RTL 2. Habt ihr den auch gesehen? Den mit der Frau, die nach einem Autounfall ihre Stimme verloren hat?«
»Ach, das ist ja schrecklich!«, ruft Hanna und nimmt schnell noch einen großen Schluck Bowle. Die anderen machen es ihr nach. »Man muss ja so dankbar sein, dass man gesund ist!«
»Oh ja«, sagt Petra, »Gesundheit ist das Wichtigste!«
Sie ist froh, dass sie aus dieser Ich-gebe-mit-meinem-Mann-an- Nummer rausgekommen ist, und hofft, dass das Thema nicht noch einmal aufkommt. Sie holt schnell Schnapsgläser aus der Wohnzimmerschrankvitrine mit Hintergrundbeleuchtung und schenkt allen ein: »Auf die Gesundheit, meine Lieben! Schwarze Sau – selbst gemacht natürlich.«
»Wollen wir uns wieder vertragen?«, fragt Tina.
»Äh, wieso ...«, wundert sich Petra. »Wir haben uns doch gar nicht gestritten?«
»Das sagt man bei uns so. Das ist unser Landfrauen-Trinkspruch«, erklärt Tina.
»Und was nicht ist, kann ja noch kommen«, fügt Hanna hinzu und stimmt ein fröhliches Gackern an.
Petra weiß nicht so recht, was sie von dieser Andeutung halten soll, sagt deshalb schnell »Na dann!«, setzt das Schnapsglas an die Lippen und kippt es gleichzeitig mit ihrem Kopf nach hinten. Eine sehr flüssige, gut koordinierte, fast routiniert wirkende Bewegung. Die anderen machen es ihr nach. Es sieht ein wenig so aus wie der Auftakt zur traditionellen Adventsvorführung der Jazztanzgruppe. Dynamisch und ausdrucksvoll.
Hanna betrachtet versonnen die Wonder-Orange -Flasche und fragt: »Was ist mit biologischen Aromazusätzen gemeint?«
»Die Orangen, aus denen das Aromakonzentrat gewonnen wird, stammen aus rein natürlichem Anbau!«, behauptet Edith und greift nach einer länglichen Dose. »Ganz neu und superrevolutionär ist auch der Intensiv-Oberflächenreiniger Combat Clean ! Der entfaltet seine volle Intensität am besten in diesem Pump-Aufschäumer. Das hat den Vorteil, dass man mit minimalem Reinigungsmitteleinsatz maximale Wirkung erzielt!«
Hanna greift sofort nach Combat Clean, doch Edith zieht die Hände schnell zurück.
»Ich darf euch das mal kurz vorführen!« Sie füllt etwas Combat Clean in den Pump-Aufschäumer, der aussieht wie ein normaler Dosierspender, und schüttelt ein wenig. Dann zielt sie mit dem Aufschäumer wie mit einer Waffe auf ein Mikrofaserputztuch, das sie auf dem Tisch ausgebreitet hat, und drückt ab. Zischend schießt Schaum heraus, ein Klacks fällt vom Mikrofasertuch auf die Tischdecke. Dort verläuft das Blumenmuster.
»Huch!«, sagt Edith. »Entschuldigung!«
»Macht doch nichts.« Petra ist die Decke vollkommen egal. Ihre Party verspricht, ein voller Erfolg zu werden. Alle sehen so entspannt aus!
»Sehr effektiv«, lobt Hanna. »Kann ich die Dose bitte mal sehen?«
Edith reicht noch mehr Flaschen, Tuben und Tiegel herum und preist die Vorzüge der Wundermittel. Als sie spürt, dass sie die Runde nicht nur angefixt, sondern wirklich im Griff hat, geht sie zum Demonstrationsteil über.
»Jetzt kommt bitte mal alle mit in die Küche! Ich habe da etwas vorbereitet!«
Das ist der Teil, auf den Petra sich schon die ganze Zeit freut. Edith hat versprochen, in ihrer Küche mit allen Fresh&Clean- Produkten gründlich sauberzumachen. Endlich wird die Arbeitsplatte wieder strahlen! Und die Schränke nicht mehr so verschmiert aussehen! Sie hatte ja eigentlich vorgehabt, selber zu putzen, so macht man das schließlich, wenn man Gäste erwartet, und nicht nur dann. Aber Edith hat ihr das am Telefon ausdrücklich verboten: »Ich brauche ein absolut authentisches Versuchsfeld!«
Petra betritt die Küche – und weicht sofort wieder erschrocken zurück. Alle Flächen sind nur halb geputzt! Die authentische Sechziger-Jahre-Einbauküche sieht zur Hälfte aus wie neu ... aber das lässt die andere Hälfte noch vergilbter, verblasster, verkommener, verwahrloster aussehen. Petra drängt sich der
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