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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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Gemeinheiten, Deformationen und Zerstückelungen an den Bruchstellen von jedweder Existenz verwandelten mich in einen Bullterrier, der, einmal zugeschnappt, sich verbiss, immer tiefer ins Gewebe drang, mit schnüffelnder Nase auf der Fährte ins tiefste Blut sich vorarbeitete, die Muskeln durchtrennte, in beißsüchtige Trance geriet, mit tiefem Knurren die Beute schüttelte und fetzte und nie mehr losließ, bevor nicht alles klar beschieden war. Nichts war klar beschieden. Das war es nie! Aber ich wollte es! Jetzt unbedingt!
    Hin und wieder ertappte ich mich bei einer stillen Wut. Aber auf wen und auf was? Auf meine Mutter, die mich zwischen Himmel und Erde, beim Auf und Ab einer Schiffschaukel, auf einem Stoppelfeld empfangen hatte?
    »In der Ferne hörte man das Rattern der Berg- und Talbahn, das schrille, aufnervende Kreischen der Frauen, die Stimmen der Losverkäufer. Der Hochofen glühte rot im Nachthimmel«, sagte meine Mutter. »Ich zerkratzte ihm mit den Fingernägeln den Rücken. Ich zerbiss ihm den Mund. Er heulte zum bernsteingelben Mond wie ein Wolf. Wenn du nicht gekommen wärst, wäre ich mit ihm gegangen.« Sie schwieg. »Eine Frau liebt immer nur einen. Egal, wie viele danach kommen. Das ist auch schön. Aber eine Frau liebt immer nur einen.« Sie musterte mich. Dann sagte sie, schon leicht beschickert: »Du siehst ihm nicht ähnlich mit deinem blonden Büschel auf dem Kopf. Vielleicht bist du gar nicht von ihm«, und goss sich noch einen kleinen Cognac ein. »Blond war der Nächste. Ein Konditormeister.«

    Eine Bachstelze fing wippend Fliegen, fing Fliegen, wippend. Ihr Flug passte sich dem Zickzack der Fliegen an. Wippend kriegte man die Fliegen schneller. Ich wurde zur Bachstelze und fing wippend die Fliegen im Haus. Es klappte. Ich wusste nicht, warum ich zur Bachstelze wurde. Seitdem hatte ich einen wippenden Gang. Manchmal hüpfte ich richtig. Vor Freude oder vor Trauer. Oder einfach des Wippens wegen. Ich musste nicht wippen. Oder? Das Wippen erzeugte, je nach Geschwindigkeit und Wipphöhe –, ob nur ein leichtes Anheben des hinteren Fußballens oder ein jähes Hochschnellen auf die Fußspitzen –, einen angenehmen Schwindel, einen Rausch im Kopf, den ich je nach Bedürfnis – oder soll ich sagen: nach Bedürftigkeit? – entsprechend variieren konnte. Alles wurde unscharf, verschwamm. Wohligkeit breitete sich aus in mir. Ein Schwebezustand, bei dem ich dachte, bald hebst du ab wie ein Vogel, wie eine Bachstelze, und fliegst weg. Einfach so. Allem entfliegen. Wie gerne hätte ich das jetzt getan. Entfliegen.

    Neben dem Pelzgeschäft lag die Wohnung. Parterre. Im Obergeschoss waren die Büro- und Lagerräume und die Arbeitsräume. Ich weiß nicht mehr, wie viele Angestellte meine Mutter hatte, die aus den Pelzen Mäntel, Jacken, Mützen und viele andere schöne Sachen machten. Es gab ein paar Kammern, in denen Kürschnergesellen wohnten. Im Haus war immer Leben.
    Betrat man die Wohnung parterre, gelangte man in einen langen, breiten Gang, von dem rechts und links die Zimmer, die große Küche, Vorratsräume und der Salon mit dem Kamin abzweigten. Der Gang mündete in einer französischen Verandatür, die in den Garten führte und die im Sommer aufgeklappt wurde. Licht flutete in den Gang, wenn die Sonne schien, und es roch nach Gras und Blumen. Ein großer Kirschbaum versperrte den Blick.
    In diesem Gang stand ein mächtiger Berliner Schrank aus dem Biedermeier. Das polierte Birkenholz leuchtete hellgelb und funkelte, wenn die Sonne drauf fiel.
    Dieser Schrank wurde meine Heimstatt. In ihn entfloh ich. Ich setzte mich in die Finsternis des Schrankes, in dem die Pelze meiner Mutter hingen. Nerzmäntel, Zobeljacken, Fuchsschwänze, Biberfellkappen. Kostbarkeiten. In kleinen Gefäßen waren rosafarbene Mottenkugeln zwischen die Felle gehängt. Diesen Geruch der Mottenkugeln trank ich in der Finsternis in großen Zügen. Bis zur völligen Benommenheit. Das war wie Wippen. Durch die Schlüssellöcher des alten Schrankes sah ich hinaus in den Flur. Kunden gingen vorbei, Gesellen mit Fellen beladen, während ich durch eines der Schlüssellöcher linste, besoffen vom Mottenkugelduft. Die Menschen, die ich im Kreisrund des Schlüsselloches wie durch ein Fernglas erspähte, waren so weit weg. Sie schwebten in Hüfthöhe vorbei. In dieser Höhe waren die beiden Türschlösser des Schrankes angebracht. Ich sah die Vorbeigehenden nur in Ausschnitten, bruchstückhaft. Schwebeteile, die ich im eng

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