Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
begrenzten Ausschnitt des Schlüsselloches sah. Menschliche Fragmente. Einen Unterarm mit Bauch, eine Handtasche, eine Hüfte mit Hand, selten einen Kinderkopf, einmal einen Blumenstrauß, dann eine schnüffelnde Hundeschnauze direkt vor dem Schlüsselloch. Einmal lugte ein Auge durch das Schlüsselloch. Ich fühlte mich ertappt in meiner lulligen Besoffenheit, hielt atemlos die Luft an. Das Auge blinzelte und verschwand. Kein Geräusch drang in den Schrank. Die Pelze schluckten jedes Geräusch. Schlüssellochstummfilm. Mottenkugelrausch. Jetzt kannst du rufen, so laut du willst, dachte ich, niemand wird dich hören. Dein Atem beim Rufen wird die stummen Bilder von Menschenteilen nur noch weiter wegtreiben wie der Wind den Nebel. Nebelfetzen. Menschenfetzen. Geister.
Dann lief in meinem Schlüssellochkino die Priesterweihe, der Hauptfilm. Ich nenne ihn so, weil darin der Priester aus der barocken Basilika schräg gegenüber unserem Haus, ganz jung noch und italienischer Abstammung, ein schöner Mann, und meine Mutter die Hauptrolle spielten. Zuerst tauchte meine Mutter in meinem Schrankkino auf. Ihr Po. Und ihre Hand mit dem schweren silbernen Armreif. Die Hand eines Mannes tauchte auf und die aufgesetzten Taschen seines schwarzen Jacketts. Der Mann hüstelte, als hätte er einen Pfropfen im Hals. Am Hüsteln erkannte ich den Priester. Das Hüsteln war sein Tick. Seine Hand legte sich auf den Po meiner Mutter. Die Hand verschwand, den Po betastend, abwärts. Tauchte wieder auf im Schlüsselloch, den Rock meiner Mutter hochschiebend. Bis zum Slip, den die Hand jetzt herunterschob, das weiße Fleisch jetzt, das die Hand knetete wie der Bäcker den Brotteig. Meine Mutter stöhnte. Der Priester hüstelte pirouettenartig ein langgezogenes Hüsteln. Ihre Becken schlugen, erst ganz langsam, immer schneller rhythmisch gegeneinander. Begleitet vom anschwellenden Stöhnen meiner Mutter und einem Hüstelstakkato, das an Tempo deutlich zunahm. Was machten die da? Ich dachte an die Antriebskolben meiner Spielzeugeisenbahn, wenn die Lok Fahrt aufnahm. Die Hand meiner Mutter befingerte jetzt den Hosenlatz des Priesters. Kurzer Filmriss. Hüfte, Po, Hosenlatz verschwanden. Jetzt das Geschehen wieder im Schlüssellochausschnitt. Fleischiger Kolben ragt aus dem Hosenlatz des Priesters, schiebt sich zwischen die hellweißen Schenkel meiner Mutter. Ein äußerst intensives Stöhnen und Hüsteln, ein vereinter, linear sich verströmender Dauerton im höchsten Diskant ohne module Schwankungen – dann ein helles Kinderlachen. Ein Ausruf meiner Mutter. Wieder Filmriss. Schlüsselloch leer. Kurz darauf segelte ein Regenschirm vorbei. Ein bunter Kinderregenschirm, schräg gehalten. Mit einem gelben Plastikentchen auf der Schirmspitze.
Dann geschah es. Es wuchs mir. Aus der Hose durch die Schranktür. Ein knüppelähnliches Gebilde, die Keule eines Rübezahls. Ich stemmte mich mit den flachen Händen gegen die Schranktüren, voller Angst vor diesem Gebilde, das mir völlig fremd war, voller Angst, mitgerissen zu werden durch das enge Schlüsselloch hinaus in den Gang, ins Haus. Schmerzende Härte! Die vielen Menschen im Haus! Die Kunden! Ich wusste nicht, wie und was mir geschah. Es ängstigte mich, was mir da übermächtig gewachsen war, nicht zu wachsen aufhörte, so schien es mir, und übermächtig nun zuschlug, den Gang zertrümmerte, die wertvollen Stiche von den Wänden riss, die Skulpturen – die Lieblinge meiner Mutter – zerschmetterte, in den schattigen Garten eindrang, in diese ovalrunde, südländische Idylle, in diese Blütenpracht, in dieses Bienengesumme, und dort alles kurz und klein schlug. Kurz und klein. Endlose Trümmer. Gefällte Palmen, das Gewächshaus, der Stolz meiner Mutter, zertrümmert, Katzen hingestreckt auf den Terrakottafliesen, Blutlachen, Vogelleichen im Geäst der dunkelschattigen Kastanien.
Noch heute bin ich befremdet über diese unaufhaltsame Wut, die offensichtlich ihren Ursprung in einem mir bis dahin unbekannten Unterleibsschlegel monströsen Ausmaßes mit der Härte einer Brechstange hatte. So jedenfalls kam es mir vor.
Kunden liefen durch den Gang an diesem Schrank vorbei, aus dem dieser gewalttätige Schlegel ragte. Wohin mit dieser Unübersehbarkeit? Sofort kam meine Mutter gelaufen. »Fritz, was machst du denn da Unanständiges?« Sie kam nicht. Die Kunden liefen achtlos vorbei, als ragte da nichts. Kein Ästlein. Kein Hälmchen. Nichts. Ich allein im Schrank. Das Auge am Schlüsselloch. Ich
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