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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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wagte es nicht, den schützenden Schrank zu verlassen. »Eine gute Mutter hat den Röntgenblick«, sagte meine Mutter immer wieder. »Ich sehe alles. Mir entgeht nichts.« Was würde sie sehen, wenn sie mich anschaute mit ihrem Röntgenblick? Würde sie wissen, dass ich sie und den Priester beobachtet hatte? Ohne genau zu wissen, was da passiert war. Es war bedrohlich, fremd. Ich wollte die Augen verschließen und alles vergessen: den Po, die Hand am Po, den Kolben zwischen den weißen Schenkeln, ein Ding, wie es auch mir wuchs.
    Der Röntgenblick würde das alles sehen, die Hand des Priesters an ihrem nackten Po, das Ding, das mir wuchs. Es ihr zwischen die Schenkel hineinzurammen, war mein Begehren. Wieso gerade ich? Es hätte mir niemals wachsen dürfen, ich hätte es niemals sehen dürfen, ich hätte niemals diese Wut haben dürfen, ich hätte dieses Ding wegstopfen müssen, davon war ich, obwohl ich nicht wusste, warum, überzeugt. Das Ding in meiner Hose, alles, was ich gesehen hatte, sollte ewig Geheimnis bleiben. Kein Röntgenblick sollte in mein Geheimnis dringen.
    Endlich verließ ich den Schrank. Es dämmerte schon. Ich eilte fieberhaft durch das Haus. Halleluja! Gebenedeit sei die Jungfrau Maria! Alles war unbeschädigt, die Bilder hingen, die Skulpturen standen, die Blüten dufteten, der Garten, die Seelenoase meiner Mutter, wie sie sagte, atmete betörend, die Katzen fläzten, die Vögel zwitscherten, die Kunden betasteten den weichen Pelz. Alles war intakt. Nichts kaputt. Niemand war durchbohrt. Aus der Basilika tönte zur Messe mächtig die Orgel. Bestimmt war meine Mutter dort. »Der Priester hat so eine wunderbare Stimme«, schwärmte sie immer, wenn sie vom Kirchgang zurückkam. Das Geheimnis meiner Hose war unentdeckt geblieben. Ich war glücklich und erschöpft zugleich. Ich war fest entschlossen, dieses Ereignis, das mir die Hose sprengte, für immer im Schrank einzusperren. Ich betrat ihn nie mehr, in der Hoffnung, dass die berauschenden Ausdünstungen der Mottenkugeln das Zelluloid meines Schlüssellochfilms mit der Zeit zerfressen würden.

    Manchmal, später, wenn ich an dem Schrank vorbeilief, dachte ich an den Film. Er wurde aber blasser. Zersetzte sich. Im Übrigen gab es neue Filme. Cineastische Ereignisse, vor denen dieser Kinderfilm verblasste. Davon wusste ich aber noch nichts.

    Heute gibt es in den Apotheken und Drogerien keine Mottenkugeln mehr, außer in großen Fünfkilobehältern. Damit könnte man Schrankkollonaden füllen. Geheime Höhlen der Lust und des Rausches. Aber Mottenkugeln können mich heute nicht mehr berauschen.
    Jahre später, kurz vor dem Abitur, erkundigte ich mich in einer Apotheke am Markt nach Mottenkugeln. Ganz beiläufig. Ich genierte mich. Das Verlangen war plötzlich wieder da, nachdem ich es im Schrank doch für immer eingesperrt hatte. Es gab keine Mottenkugeln mehr. Es gab Lavendelsäckchen und geruchloses Papier gegen Motten. Ich war wieder wie besessen von Mottenkugeln. Ich verließ die Apotheke dann sehr schnell, wenn ich wieder nach Mottenkugeln gefragt hatte und es keine gab. Schimpfte mit mir, hielt das alles für ein kindliches Überbleibsel. Aber immer wieder überfiel mich eine Sehnsucht nach dem Geruch dieser Mottenkugeln zwischen den Pelzen meiner Mutter, die sanft meine Wangen umschmeichelten und kitzelten. Wo mir zum ersten Mal die Lust kam. Angesichts der Hand des Priesters am Po meiner Mutter, der er seinen Speer in den Schoß rammte. »Der Priester hat einen Speer, Fritzi, wusstest du das?«, kicherte meine Mutter bei einem Cognäcchen wenige Tage nach dem Stummfilmereignis Priesterweihe. Ich wusste natürlich nichts. Meine Mutter gickelte nur wie ein beschickertes Hühnchen und goss sich noch einen Cognac in den Schwenker. Ich wusste jetzt, dass sie nichts wusste. Ihr Röntgenblick hatte damals versagt. Oder wusste sie doch, oder wussten beide, dass ich im Schrank meinen einäugigen Blick durch das Schlüsselloch spannte?
    Meine Mutter raschelte immer. Sie trug seidene Röcke und seidene Blusen. »Ich liebe Seide«, sagte sie, »die Königin unter den Stoffen. Sie kühlt die Haut. Sie prickelt. Prickelnde Gänsehaut. Schaurig schön«, scherzte sie. Meine Mutter war jung damals. Sie bekam mich mit siebzehn.
    Jeden Nachmittag, bevor die Glocken der Basilika zur Messe läuteten, nahm meine Mutter ein Bad. »Kommst du?«, fragte sie. »Du bist doch mein kleiner Bademeister.« Es war mir immer peinlich, ihr zu folgen. Wenn uns jemand

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