Frösche: Roman (German Edition)
kehrt und verschwand in der Kantine.
Am nächsten Tag knabberten wir beim Unterricht die ganze Zeit über Kohle. Wir saßen mit geblähten Backen, den Mund voll mit rabenschwarzer Kohle und Kohlekrümeln in den Mundwinkeln. Nicht nur die Jungs, auch die Mädchen, die nicht beim Kohlenabladen dabei gewesen waren, aßen sie unter Anleitung der kleinen Galle. Renmei, der Tochter des Kantinenkochs – meiner späteren ersten Frau – schmeckte sie am besten. Jetzt fällt mir gerade ein, dass sie damals bereits Parodontose gehabt haben muss, hatte sie doch beim Kohlenessen immer den ganzen Mund voller Blut. Unsere Lehrerin Yu schrieb ein paar Zeilen an die Tafel, wandte sich um und musterte uns eindringlich. Sie befragte zuerst ihren eigenen Sohn, unseren Klassenkameraden Li Hand: »Hand, was esst ihr da?«
»Wir essen Kohlen, Mama.«
»Lehrerin, wir essen Kohlen! Möchten Sie auch probieren?«
Das hatte Wang Galle in der ersten Reihe gerufen und die Kohle hochgehalten. Ihr lautes Rufen ähnelte dem Fiepen von Kätzchen. Lehrerin Yu kam vom Katheder herunter und nahm die ihr dargebotene Kohle, hielt sie sich unter die Nase, um daran zu riechen und sie genau zu betrachten. Es verging eine lange Zeit, in der sie keinen Ton sprach. Dann gab sie die Kohle zurück und fuhr fort:
»Liebe Kinder, heute nehmen wir Lektion sechs durch. Die Fabel vom Raben und vom Fuchs. Der Rabe hatte einen Käse gestohlen und bildete sich viel darauf ein. Er flog damit auf einen Baum. Da kam der Fuchs vorbei. Der sprach zum Raben: ›Rabe, Sie singen ja bestens! Welch wunderschöner Klang! Ertönt Ihr Gesang, sollten alle Vögel auf der Welt stille schweigen!‹ Dem Raben verdrehten die Schmeicheleien des Fuchses so den Kopf, dass er den Schnabel aufsperrte, um ... O weh! Der fette Käse fiel hinunter und landete im Rachen des Fuchses.«
Dann übte unsere Lehrerin mit uns zusammen das Lesen der Fabel im Chor. Sie las vor, dann waren wir an der Reihe, mit unseren Mündern voll rabenschwarzer Kohle.
Lehrerin Yu besaß Bildung, hatte aber ihrem Sohn, so wie es bei uns auf dem Land Brauch ist, einen traditionellen Namen gegeben. Yu Hand schaffte später die Hochschuleintrittsprüfungen, so dass er Medizin studieren konnte. Nach dem Examen kehrte er zurück aufs Land und arbeitete bei uns im Kreiskrankenhaus als Chirurg. Als Chen Nase beim Häckseln vier Finger in den Schredder bekam, konnte Yu Hand ihm drei davon retten und wieder annähen.
2
Warum besaß Chen Nase eine so ungewöhnlich große Nase, die sich so deutlich von unseren Nasen unterschied? Das wird sicherlich nur seine Mutter aufschlussreich erklären können.
Nases Vater Chen Stirn war der einzige bei uns im Dorf, der zwei Frauen hatte. Er war belesen und kannte viele Schriftzeichen. Vor der Befreiung, dem Sieg der Kommunistischen Partei, hatte die Familie dreißig Morgen bestes Ackerland besessen, dazu eine Schnapsbrennerei und in Harbin ein Handelshaus. Seine Hauptfrau stammte aus unserem Dorf und gebar ihm vier Töchter. Vor der Befreiung hatte Chen Stirn längst das Weite gesucht, aber dann, es war um das Jahr 1951, hatte ihn Yuan Gesicht zusammen mit zwei Volksmilizionären in der Mandschurei aufgespürt, festgenommen und zurückgebracht. Seine Frau und die vier Töchter waren bei uns auf dem Land geblieben, denn er war allein abgehauen. Als er zurückkam, hatte er eine fremde Frau bei sich. Sie hatte gelbe Haare und blaue Augen, ich schätze, sie war damals Anfang dreißig. Alina war ihr Name. Im Arm hielt sie einen gefleckten Hund, einen Dalmatiner wahrscheinlich. Weil Chen Stirn sie schon vor 1949, also vor Gründung der Volksrepublik, geheiratet hatte, durfte er seine zwei Frauen vor dem Gesetz behalten. Bei uns im Dorf gab es ein paar arme Schlucker, die sich keine Frau leisten konnten. Sie erzürnten sich darüber maßlos und verlangten – halb im Scherz, aber sie schienen es dennoch ernst zu meinen –, dass Stirn ihnen eine seiner beiden Frauen abgeben solle. Stirns Gesichtsausdruck war Lachen und Weinen zugleich. Anfangs wohnten alle unter einem Dach, aber weil es zu Streit und Handgreiflichkeiten kam, keiner mehr ob des dauernden Lärms eine Auge zutun konnte, willigte Yuan Gesicht ein, dass die Zweitfrau in das kleine Seitenhaus neben der Schule zog. Das Schulgebäude hatte ursprünglich den Chens gehört und war einst die Schnapsbrennerei gewesen. Das Seitenhaus hatte ihnen auch gehört. Stirn einigte sich mit den beiden Frauen darauf, dass sie dort abwechselnd
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