Frohes Fest!
ich alle Hoffnung aufgegeben hatte. Das Geschenkpapier war genauso glänzend und rauh wie in meiner Erinnerung. Ich lächelte und erstickte fast vor Nostalgie, als ich an mein zehn Jahre altes Ich dachte, das dieselbe Packung vor 25 Jahren gestreichelt und sich gefragt hatte, ob es sie öffnen sollte oder nicht.
Offne es erst, wenn du es wirklich brauchst, stand auf dem Kärtchen.
Meine leere Wohnung isolierte mich, hielt Weihnachten davon ab, mich zu erreichen. »Also«, sagte ich, »wenn ich es jetzt nicht brauche, dann brauche ich es nie mehr.«
Ich zog langsam das Band auf und fühlte fast die Jahre mit hindurchschlüpfen. Ich lachte und wünschte mir, Jenny wäre hier bei mir. Ich hatte sie beinahe zwei Monate nicht gesehen. Zu lange.
Das Papier raschelte, als ich es wegzog und zusammenfaltete. Ich legte es sorgsam zur Seite. Es war schon nahezu ein Schuldgefühl, was ich empfand, da ich das Versprechen des Päckchens gebrochen hatte. Brauchte ich es wirklich jetzt?
Sei nicht dumm, sagte ich mir. Ich drehte die Schachtel in den Händen herum. Schmucklos, weiß. Ich öffnete sie und fand darin ein zweimal gefaltetes Stück Papier. Ich weiß nicht, welchen Inhalt ich eigentlich erwartet hatte, aber es war sicher kein Stück Papier. Ich entfaltete es und erblickte eine Mitteilung in der Schrift meines Vaters. Das Papier war brüchig und vergilbt nach all den Jahren. Der Text war gut leserlich geschrieben, so daß auch ein Zehnjähriger ihn leicht lesen konnte.
Lieber Chris. Deine Mutter glaubt, du wirst dies noch vor dem Essen öffnen. Ich glaube, du wirst es länger aushalten. Dies ist das schönste Geschenk, das ich dir geben kann, denn ich gebe dir damit all meine Liebe. Meine Liebe wird immer bei dir sein, wenn du sie am nötigsten brauchst.
Ich las es noch einmal und dann noch einmal. Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte die Liebe meines Vaters schlummernd in dieser kleinen, in Silberpapier eingewickelten Schachtel gelegen. Ich faltete den Zettel wieder zusammen und nahm ihn mit in die Küche, wobei ich unbewußt die Vorhänge öffnete. Die Kinder sangen nicht mehr, aber die Sonne glänzte auf dem Schnee unter meinem Balkon. Drüben im Park jenseits der Straße bauten einige Kinder einen Schneemann.
Ich stellte mir meinen Vater vor, wie er in einer kalten Winternacht in seinem Arbeitszimmer gesessen und diesen Brief geschrieben hatte. Es war das einzige Mal, soweit meine Erinnerung reichte, daß er mir sagte, er liebe mich, und ich erkannte, wie sehr ich das immer vermißt hatte.
Ein paar Augenblicke später rief ich Mary an. »Hallo, fröhliche Weihnachten!«
»Chris?« Ihre Stimme klang überrascht. »Wir haben lange nichts mehr von dir gehört.«
Ich nickte mit einem Lächeln auf den Lippen. »Vielleicht läßt sich das ändern. Ist Jenny da? Ich möchte ihr etwas Wichtiges sagen.«
Originaltitel: »The Shadows of Christmas«
Copyright © 1991 by John R. Little (Erstveröffentlichung);
mit freundlicher Genehmigung des Autors
und der Agentur Luserke, Friolzheim
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von
Uwe Luserke
So, und jetzt drehen Sie
das Buch mal um,
damit Sie Weihnachten auch von einer anderen Seite
kennenlernen!
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[1] (d. i. Donald Westlake)
[2] Chanukah oder Hanukah: jüdisches Fest, das an die feierliche Wiedereinweihung des Tempels durch Judas Maccabäus im Jahre 156 v. Chr. erinnert. Das Fest dauert 8 Tage und beginnt am 25. Tag des jüdischen Monats Kislev (etwa um die Weihnachtszeit).
[3] You’d better watch out …
Der Originaltext hat folgenden Wortlaut:
You’d better watch out,
Santa Claus is Coming to town.
You’d better not cry,
You’d better not pout,
I’m telling you why:
Santa Claus ist Coming to town.
Auf deutsch etwa:
Paß bloß auf! / Der Weihnachtsmann kommt in die Stadt. Sei bloß brav / zieh’ lieber keine Schnute / ich sag’ dir auch warum: / Der Weihnachtsmann kommt in die Stadt.
* Doubleday heißt ein amerikanisches Verlagshaus – Anm. d. Übers.
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