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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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arbeitsfreien Tag. Sogar der verdammte Kaffee schmeckte bitter.
    Aber als ich zehn war, da war die Welt noch ein Spielplatz für mich, ein zeitloser Ort, an dem nur Gutes geschah, wo man wohl wußte, daß der Weihnachtsmann in Wirklichkeit von Mammi und Paps gespielt wurde, aber die unter dem Baum aufgestapelten Geschenke zogen mich magisch an, ein Magnet, der mit jedem Vorweihnachtstag stärker wurde, bis Heiligabend in einer schlaflosen Ewigkeit verging und die Minuten sich immer weiter dehnten.
    Endlich nahm Paps noch mal einen Schluck Tee und nickte. »Okay, Chris. Sollen wir anfangen?« Er grinste, und ich sprang von meinem Stuhl.
    »Okay!« rief ich. »Ich hole die Geschenke! Mammi, du sitzt hier!« Ich zog sie zu ihrem Lieblingssessel, den ich allerdings noch nie leiden konnte. Es war ein alter Sessel und er quietschte. »Paps – dort rüber«, sagte ich und deutete auf die Couch.
    Ich kroch unter den Baum und zog das erste Geschenk heraus. Meine Fingerspitzen prickelten in Vorfreude, als ich das Schildchen las: »Für Chris – mit besten Wünschen von Tante Michelle.«
    »Das ist für mich«, sagte ich, als ich hektisch das Geschenkpapier herunterriß und hinter mich warf. »Es ist ein Scrabble-Spiel.«
    »Von wem ist es?« fragte Paps.
    Ich zuckte die Achseln und suchte noch mal nach dem weggeworfenen Schildchen. Ich wußte, man erwartete von mir einen Dankesbrief für jedes Geschenk; das war das Dümmste an Weihnachten.
    Paps zündete sich eine Zigarette an und bekam prompt einen seiner Hustenanfälle. Ich glaube, der Krebs hatte damals schon angefangen, aber zu der Zeit schien es einfach nur lästig. Ich wartete darauf, daß er aufhörte, und fand ein Geschenk für ihn. »Hier, Paps, das ist für dich!«
    Es waren ein Paar schwarzer Socken und ein braunes Taschentuch. Paps lächelte und drückte mich ganz fest. Ich wußte halt nie, was ich für jemanden kaufen sollte.
    Das hat sich auch seither nicht geändert. Letztes Jahr kaufte ich Jenny eine Cabbage-Patch-Puppe, zwei Jahre nachdem sie aus der Mode waren, und ein Mikroskop, das sie nicht einmal aus der Holzschachtel herausnahm. Auch sie lächelte und umarmte mich.
    Mammi saß in ihrem alten, quietschenden Sessel, strickte und lächelte mich an, als ich unter dem Baum ausräumte, während Paps einige Tassen Tee hinunterkippte. Mit jedem Paket, das ich öffnete, wurde das Durcheinander im Zimmer größer. Jedes Spielzeug wanderte auf einen Stapel (den guten Stapel), während Kleidungsstücke nebenan aufeinandergelegt wurden, damit sich Mammi um sie kümmerte.
    Ohne die Geschenke sah der Baum richtig nackt aus. Wie gewöhnlich wünschte ich mir nur ein weiteres Geschenk, nachdem sie alle geöffnet waren. Es spielte keine Rolle, wie viele Geschenke ich bekommen hatte, immer blieb dieses vage Gefühl der Unzufriedenheit, wenn alles vorbei war und alle Pakete ihre Geheimnisse preisgegeben hatten.
    Am heutigen Weihnachtstag gibt es keine Geheimnisse in meiner Wohnung. Es ist ruhig hier ohne Mary und Jenny – kein Rufen und Gelächter, keine Weihnachtslieder im Radio, keine Umarmungen oder Küsse.
    Ich versuchte, mich daran zu erinnern, warum sie mich eigentlich verlassen hatten, aber mir fiel kein stichhaltiger Grund ein. Mary und ich hatten uns wohl kaum noch etwas zu sagen.
    Vielleicht hätte ich einen Weihnachtsbaum aufstellen und ihn ein wenig schmücken sollen, aber wozu? Ich hätte ihn bloß in ein paar Wochen wieder abräumen und rauswerfen müssen.
    Die neuen Spielzeuge und Spiele beschäftigten mich damals den größten Teil des Weihnachtstages hindurch. Ungefähr Mitte des Nachmittags entdeckte ich schließlich das Extra-Geschenk. Ich spielte gerade mit Pfeil und Bogen; die Pfeile hatten kleine Gummi-Saugnäpfe an den Enden. Einer davon landete hinter dem Baum und als ich ihn herausfischte, sah ich das Geschenk.
    Es war klein und in Silberpapier eingepackt, das sich überraschend rauh anfühlte. Ein rotes Seidenband mit einer hübschen roten Schleife hielt das Papier zusammen.
    Es hatte vielleicht die Größe einer Zigarettenschachtel oder ein wenig kleiner sogar.
    Aus irgendeinem Grund schaute ich mir das ganz genau an. Vielleicht, weil es so sorgfältig und fein eingepackt war, als ob mehr Zeit dafür verwandt worden wäre, dieses Geschenk einzupacken, als alle anderen Geschenke zusammen.
    Mit einem Silberfaden war an der Schleife ein großes Kärtchen befestigt. Das war fast genauso groß wie das Geschenk selbst, und darauf stand mit Maschine

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