Frostblüte (German Edition)
ihrer Magerkeit hatte sie es geschafft, den kleinen Jungen auf ihre Hüfte zu heben. »Diejenigen, die zu krank oder zu jung oder zu hässlich oder zu alt sind, um verkauft zu werden. Sie lassen uns die Arbeiten machen, für die sie sich zu gut sind. Wir kennen uns hier aus. Wir können uns verstecken, bis der Kampf vorbei ist, egal wie er ausgeht.«
»Bleibt in Deckung. Wir schicken jemanden, falls – wenn – wir gewinnen«, sagte ich.
Die Frau nickte und lief auf den Gang zu, die anderen trotteten ihr langsam hinterher. In der Türöffnung drehte sie sich um. »Dieser sedrische Junge. Er lief diese Treppe so schnell hoch wie eine Ratte Richtung Sickergrube. Falls es euch interessiert.«
»Ja, das interessiert uns. Danke.«
»Verpass ihm ein paar Schläge von mir«, sagte die Frau und wandte sich ab.
Arian öffnete den Mund, aber ich legte ihm die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Wie konnte er Lucas Verhalten diesen Menschen gegenüber verteidigen?
Arian stieg mit seinem flackernden Licht als Erster die Treppe hinauf. Ich folgte ihm auf den Fersen, das Messer sorgsam nach unten haltend, um ihn nicht zu verletzen, falls er plötzlich stehen blieb. Die stinkende Luft der Sklavenverschläge haftete an meiner Haut.
Als wir das Ende der Treppe erreichten, standen wir in einem verlassenen Gang, der genauso aussah wie der, der in den Raum mit den Sklaven geführt hatte. Direkt vor uns befand sich eine weitere Treppe.
»Das gefällt mir nicht.« Arian starrte auf den Gang. »Wir können stundenlang durch dieses Gebäude irren und trotzdem nichts finden. Es ist riesig. Wo will Luca hin? Er kann doch ebenso wenig wie wir wissen, wo Ion steckt.«
»Nein«, sagte ich kopfschüttelnd. »Er muss irgendeine Vorstellung haben, sonst hätte er sich Hind gegenüber nicht so verhalten. Wo würde er nach Ion suchen? Das ist die Frage. Wo hält sich Ion in einem Gebäude wie diesem aller Wahrscheinlichkeit nach auf?«
Die Kerze auf der Keule war während der Befreiung der Gefangenen fast heruntergebrannt und das heiße Wachs auf der Waffe zu gelben Rinnsalen erstarrt. Während Arian dastand und überlegte, erlosch die Flamme endgültig und ließ uns im Dunkeln zurück. Als er die Keule senkte, spritzte das letzte Wachs auf die Steinfliesen.
»Luca hat mir einmal erzählt, dass Ion am liebsten auf Menschen heruntersah – und so tat, als wäre er ein Adler und alle anderen Mäuse.«
Ich nickte und erinnerte mich, wie Ion selbstgefällig auf Arian und mich herabgeblickt hatte, als er uns am Bach überraschte. Selbst als der Wolf anfing, seine Leute anzufallen, hatte er sich nicht die Mühe gemacht, von seinem Platz auf der Anhöhe herunterzuklettern und zu helfen. »Ich glaube, er kämpft nicht besonders gern. Zumindest nicht, wenn sein Gegner in der Lage ist, sich zu wehren. Ich könnte wetten, dass er sich irgendwo oben versteckt, wo er unbeteiligt zusehen kann. Hier gibt es einen Turm. Dort würde Luca als Erstes nach ihm suchen.«
»Dann müssen wir dorthin.«
Wir rannten die nächste Treppe hinauf – doch als Arian oben ankam, blieb er wie angewurzelt stehen. Ich hielt mich mit der freien Hand an der Wand fest und spähte über seine Schulter. Der Gang war anders als die bisherigen. Auf den Steinfliesen lag ein ausgeblichener Läufer, darauf stand ein Tisch mit einer angeschlagenen Waschschüssel. In einer Halterung über dem Tisch brannte eine Öllampe.
Hier lebte jemand.
Wir eilten auf die nächste Treppe zu. Unsere schweren Schritte hallten unerträglich laut. Ich drehte mich um, um für Rückendeckung zu sorgen.
»Mutter?«
Ein kleines Mädchen, dessen blonde Locken ihm wie ein Heiligenschein um den Kopf standen, tappte auf den Gang. Als sie uns sah, erstarrte sie und hielt ihr überlanges Nachthemd umklammert, während ihr Mund ein perfektes O der Überraschung formte.
»Lauf weg!«, rief ich.
Ich hörte das kleine Mädchen hinter uns wimmern, als wir die Treppe zum nächsten Stockwerk hinaufrannten, wo Öllampen den Gang erleuchteten. Ein Mann mittleren Alters mit welligem grauem Haar eilte hinter einem Vorhang hervor und schnallte ein Schwertgehänge um. Er starrte uns mit offenem Mund an. Dann bewegte sich seine Hand zu seiner Waffe.
Arian holte mit der Keule aus und verpasste dem Mann einen kräftigen Hieb gegen die Schläfe. Getrocknetes Wachs flog in alle Richtungen. Der Mann taumelte durch den Vorhang zurück. Ein Schrei – dieses Mal der einer Frau – war zu hören. Arian folgte
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