Frostfeuer
du in ihrem Zimmer? Hast du dort ein Fell liegen sehen?«
Maus nickte benommen.
Tamsin sah zufrieden aus. »Das ist sein Fell. Er wird wieder zum Rentier, wenn er es überzieht. Aber das wird sie nicht zulassen, solange sie Freude an seiner Gesellschaft findet … oder das, was ein Wesen wie sie unter Freude versteht.«
Was für eine sonderbare Nacht!, sagte sich Maus. Zauberinnen in Zarensuiten. Bunte Frauen mit leeren, aber irgendwie lebendigen Lederkoffern. Und ein Junge, der gar kein Junge war, sondern ein Rentier. Fehlte eigentlich nur noch Väterchen Frost, der vor dem Fenster einen Schneemann baute.
»Warum hat sie ihn in einen Jungen verwandelt?«
»Im hintersten Winkel ihres verschlagenen Geistes hat sie sich immer einen Sohn gewünscht«, sagte Tamsin. »Einmal hat sie versucht, einen echten Jungen zu entführen und an sich zu binden. Das ist schief gegangen. Jetzt füllt sie die Leere in ihrem Inneren mithilfe solcher Kunststücke.« Tamsin schnaubte verächtlich. »›Kunststücke‹ lässt es so harmlos klingen. Dabei ist es grausam und niederträchtig. Die meisten Tiere würden lieber sterben, als ein Mensch zu sein – dafür kennen sie uns zu gut.« Sie zwinkerte Maus zu. »Und wer will schon ein Junge sein?«
Maus hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was sie wirklich sein wollte, aber sie lächelte höflich.
»Würdest du ihn gerne erlösen?«, fragte Tamsin. »Ich meine, ihn wieder zurück in ein Rentier verwandeln? Wir könnten es versuchen.«
Der Junge hatte Maus vor der Königin und vor dem Rundenmann gerettet. Natürlich würde sie ihm helfen. Aber sie ahnte auch, dass Tamsin ihn als Vorwand benutzte. In Wahrheit ging es ihr nicht um Erlen, sondern allein um die Schneekönigin.
»Was soll ich denn tun?«, fragte Maus.
»Halt dich einfach bereit. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich dich brauche.«
»Wird sie nicht … ich meine, irgendwie spüren, dass du hier bist? Ganz in ihrer Nähe?«
»Oh doch, das hoffe ich.« Tamsin schnippte mit dem Finger. »Wahrscheinlich weiß sie es schon.«
»Und warum kommt sie dann nicht her?«
»Sie ist geschwächt. Indem ich ein Stück von ihr gestohlen habe, habe ich ihr zugleich einen Teil ihrer Macht geraubt. Sie verliert allmählich die Kontrolle über die Kälte in ihrem Inneren. Sie fließt aus ihr heraus in die Stadt.«
»Ist es deshalb so viel kälter als sonst?«
»Ja. Und es wird noch kälter werden.« Einen Moment lang sah es aus, als wollte Tamsin noch etwas Wichtiges hinzufügen, aber dann schwieg sie mit einem kaum merklichen Kopfschütteln.
»Und wenn du sie besiegst«, fragte Maus, »wird die Kälte dann wieder verschwinden?«
Tamsin zögerte. Nach einer längeren Pause nickte sie.
»Ja, ganz bestimmt.«
Maus fand das nicht besonders überzeugend.
Tamsin bemerkte ihren verständnislosen Blick und lachte endlich wieder. Es war ein angenehmes Lachen, das es unmöglich machte, sich nicht davon anstecken zu lassen. »Sie ist noch immer gemeingefährlich, ganz ohne Zweifel. Aber sie muss ihre verbliebenen Kräfte sammeln, bevor sie zuschlägt.«
Maus stand da, blickte von Tamsin zum Koffer und zum Regenschirm, dann wieder auf ihr kunterbuntes Gegenüber. »Und du bist mächtig genug, es mit ihr aufzunehmen?«
»Das werden wir sehen, wenn es so weit ist.« Zum ersten Mal wirkte Tamsins Leichtigkeit gespielt, ihr Schulterzucken steif. »Wir werden sehen.«
Das Kapitel über einen Tanz mit Tamsin. Unten wird mit Oben vertauscht
Im Ballsaal wurde zum letzten Tanz aufgespielt. Hinter einer Wand aus Glas drehten Fische Pirouetten.
Ein Tag war vergangen, seit die Fremde aufgetaucht war, und Maus hatte sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der Augenblick, in dem Tamsin ihren Zylinder vom Kopf genommen hatte und blaue Locken wie eine Flut über ihre Schultern geströmt waren. Der Hut schien viel schwerer zu sein, als er aussah, denn Tamsin hatte ihn mit beiden Händen und einem leisen Ächzen verkehrt herum auf den Tisch gelegt.
Jetzt, kurz nach zwei in der folgenden Nacht, stand Maus am Eingang des Ballsaals und sah abwechselnd von Kukuschka und seiner grauhaarigen Tanzpartnerin hinüber zur Südwand des Raumes. In die Mauer war eine gigantische Glasscheibe eingelassen, hinter der dutzende exotischer Fische durch das Wasser eines hell erleuchteten Aquariums glitten. Eine weitere Attraktion des Aurora. Tanz am Grunde des Ozeans nannte die Direktion dies begeistert in der Werbung für die
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