Frostfeuer
»Aber das weißt du ja schon.«
»Und sie haben dich einfach liegen gelassen?«, fragte Tamsin fassungslos.
»So haben es mir zumindest alle erzählt.« Sie meinte Kukuschka und einige der Waschfrauen von damals, an deren Gesichter sie sich verschwommen erinnern konnte.
»Das ist keine schöne Geschichte«, stellte Tamsin fest.
»Tut mir Leid.«
»Nein, du kannst ja nichts dafür.« Tamsin streckte ihre Hand aus, aber Maus ergriff sie nur zögernd. »Ich meine, was für eine traurige, traurige, traurige Geschichte!«
Maus wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte.
»Es ist eben eine Geschichte. Ich kenne sie ja auch nur, weil man sie mir erzählt hat. Ungefähr so wie ein Märchen.«
»Mehr Märchen sind wahr, als wir denken.« Tamsin wirkte jetzt gar nicht mehr so fröhlich wie unten im Foyer. »Und leider sind es nur selten die schönen.«
Maus zog ihre Hand vorsichtig zurück und setzte sich auf den Koffer voller Worte. Sofort begann er unter ihr zu rumoren, als sei ein Tier darin eingesperrt. »Iiihh«, machte sie und sprang wieder auf.
»Er mag das nicht«, sagte Tamsin.
»Er?«
»Der Koffer.«
»Aber irgendwas lebt doch darin!«
»Nur die Worte. Wer denn sonst?«
Maus schüttelte verständnislos den Kopf, fragte aber nicht weiter. Etwas anderes interessierte sie viel mehr.
»Wer ist denn nun die Frau in der Zarensuite? Und warum ist sie böse auf dich?«
»Böse?« Tamsin lachte schallend auf. »Sie hasst mich mehr als … als das Feuer das Wasser. Mehr als … na, du weißt schon.«
»Aber warum?«
»Weil ich ihr etwas gestohlen habe.«
Eine Diebin!, dachte Maus aufgeregt. Sie ist eine Diebin wie ich! »Und was?«
»Etwas, das ihr mehr bedeutet als … Hmm, schwer zu sagen. Ich weiß gar nicht, was ihr überhaupt noch etwas bedeuten könnte … Außer vielleicht, Menschen zu unterjochen und zu bestrafen und in ihren Kerkern erfrieren zu lassen.«
Das klang, fand Maus, als spräche Tamsin vom Zaren. Aber sie befolgte Kukuschkas Ratschlag und schwieg.
»Sie ist eine Königin, weißt du?«, sagte Tamsin nach einem Augenblick. »Jedenfalls in ihrem Reich.«
»Was für ein Reich soll das sein?«
»Es liegt hoch oben im Norden.«
»Sibirien?« Das war das Nördlichste, was Maus einfiel.
»Noch viel weiter nördlich«, erwiderte Tamsin kopfschüttelnd. »Man findet nur auf seltsamen Wegen dorthin, und wen es einmal in ihr Reich verschlagen hat, der kommt meistens nicht mehr von dort zurück.«
»Aber du bist da gewesen. Und wieder herausgekommen.«
»Für einen hohen Preis.« Tamsin zögerte kurz. »Mein Vater ist dabei gestorben.«
»Tut mir Leid.«
Einen Augenblick lang dämmerte Trübsal hinter Tamsins heiterer Fassade, aber sie hatte sich gleich wieder unter Kontrolle.
Das war eine ganz schön merkwürdige Geschichte, fand Maus, aber eigentlich machte sie das nur glaubwürdiger. Denn auch Tamsin war seltsam. Und noch viel seltsamer war die unheimliche Frau in der Zarensuite.
»Sie ist die Schneekönigin«, sagte Tamsin.
Maus vergaß, was sie gerade hatte sagen wollen. »Die Schneekönigin?«
Tamsin nickte. »Sie ist das Gefährlichste, Durchtriebenste und Bösartigste, was je nach Sankt Petersburg gekommen ist. Aber das Allerschlimmste ist, dass ich die Schuld daran trage.« Sie ging zum Koffer, nahm ihn hoch und legte ihn flach neben den Regenschirm aufs Bett. Maus glaubte schon, sie würde ihn öffnen. Doch dann ließ Tamsin ihn liegen, trat an eines der hohen Fenster und zog den Vorhang zurück. Die Nacht war immer noch voller Schneetreiben. »Sie ist mir in die Stadt gefolgt, aber offenbar hatte sie Mühe, mich zu finden. Also dachte ich mir, ich mach’s ihr einfach und komme zu ihr.«
»Dann wird sie dich bestrafen.«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann. Und du mir vielleicht ein wenig aus der Patsche hilfst.«
Maus dachte nach. »Da ist ein Junge bei ihr. Erlen. Er sieht sehr traurig aus. Und er hat Angst vor ihr.«
»In Wahrheit«, sagte Tamsin, »ist Erlen gar kein Junge.«
Maus legte skeptisch den Kopf schräg. »Er sah jedenfalls aus wie einer.«
»Er ist ein Rentier. Dasselbe, das ihren Schlitten aus dem hohen Norden bis hierher gezogen hat.« Tamsin zeichnete gedankenverloren mit dem Finger eine Linie von oben nach unten über das beschlagene Fenster, so als erfordere dieser Satz eine Karte zur besseren Orientierung.
»Ein Rentier«, wiederholte Maus.
Tamsins Finger kritzelt blitzschnell ein fahriges Zickzack über die Linie und fuhr herum. »Warst
Weitere Kostenlose Bücher