Frostfeuer
mir.«
»Ich hätte ihr nichts verraten sollen, oder?«
»Sie hätte sowieso bald bemerkt, dass ich in ihrer Nähe bin.«
»Dann sind Sie … bist du nicht böse?«
»Ach was. Keine Spur.« Sie hob Maus’ Kinn mit dem Zeigefinger an. »Einmal lächeln für Tamsin.«
Maus lächelte, aber es sah wohl eher aus, als hätte sie Zahnschmerzen.
Tamsin seufzte. »Na, daran arbeiten wir noch.« Sie richtete sich auf, drückte Maus den Koffergriff in die Hand und schob die Drehtür an, bis sie das Foyer betreten konnten.
»Der ist ganz leicht!«, sagte Maus neugierig und ließ das Gepäckstück ein wenig nach oben schwingen. »Ist da überhaupt was drin?«
Tamsin lachte glockenhell, drehte sich aber nicht um, während sie zur Rezeption vorauseilte und die Klingel bediente.
»Natürlich ist etwas drin. Worte. Jede Menge Worte.«
Maus dachte, Tamsin hätte vielleicht die falsche Vokabel gewählt, weil Russisch nicht ihre Muttersprache war. »Sie meinen Bücher? Aber die sind viel schwerer.«
» Worte hab ich gesagt, und die meine ich auch.«
Ein verschlafener Rezeptionist erschien, beäugte argwöhnisch Maus mit dem Koffer, beeilte sich dann aber dienstfertig, der Besucherin ein Zimmer zuzuweisen. Er blickte den beiden verwundert nach, als Tamsin abermals vorausging, diesmal Richtung Lift.
»Hier«, sagte sie und reichte Maus auch den bunten Regenschirm. Nur den Zimmerschlüssel behielt sie bei sich.
Ganz trocken, dachte Maus verwundert, als sie den Schirm in die freie Hand nahm; und ohne es zu wollen, hatte sie den Gedanken auch schon laut ausgesprochen.
»Einen Schirm wie diesen spannt man nicht leichtfertig auf«, erklärte Tamsin, als sie vor dem Liftgitter warteten.
»Und warum nicht?«
»Warum nicht?« Sie kicherte wieder, und allmählich fragte sich Maus, wer von ihnen beiden eigentlich das Mädchen und wer die erwachsene Frau war. Tamsin riss theatralisch die Arme auseinander und blickte mit großen Augen zur Decke. »Natürlich weil man sonst Gefahr läuft, dass einem eine ganze Welt auf den Kopf fällt!«
Das Kapitel, in dem Maus von ihrer Geburt erzählt. Und Tamsin von der Gefahr aus dem Norden
»Wer ist die Frau, die nach dir gefragt hat?«, fragte Maus, als sie den Koffer in Tamsins Zimmer im ersten Stock abstellte, vier Etagen unter der Zarensuite. Den Regenschirm legte sie respektvoll aufs Bett und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Niemand, der in seinem Leben je irgendetwas Gutes getan hätte.« Tamsin ließ sich auf die Bettkante fallen und wippte prüfend auf und ab. »Ganz schön weich.«
»Du kannst meine Matte aus dem Keller haben. Garantiert so hart, dass man davon blaue Flecken bekommt.«
Tamsin sah auf. »Die lassen dich auf dem Fußboden schlafen?«
Maus nickte.
»Das ist kein Platz für eine Dame.«
»Die meisten Leute denken eh, dass ich ein Junge bin.«
»Aber du bist ein Mädchen.«
Maus zuckte die Achseln. »Wenn du das sagst.« Sie mochte dieses Thema nicht besonders. Es war ihr aus Gründen unangenehm, die sie selbst nicht so recht verstand.
»Du musst mir alles über dich erzählen«, sagte Tamsin.
»Jetzt gleich?«
»Wenn es deine kostbare Zeit erlaubt.«
Maus überlegte. »Es gibt nichts Interessantes über mich zu erzählen.«
»Fang mit deiner Geburt an.«
»Ich bin hier im Hotel geboren, unten im Weinkeller. Meinen Namen haben mir die Frauen aus der Waschküche gegeben. Jedenfalls die, die damals dort gearbeitet haben. Aber von denen ist keine mehr übrig. Sie sind alle entlassen worden.«
»Und deine Mutter?«
»Ist noch während meiner Geburt von der Geheimpolizei verhaftet worden. Ihr Name war Julia. Sie hatte sich unten im Keller versteckt. Die Polizisten haben mich einfach liegen lassen und sie mitgenommen. Sie ist noch am gleichen Tag hingerichtet worden.«
»Oh.«
»Sie war eine Nihilistin.«
»Oh«, sagte Tamsin noch einmal.
*
»Wer sind die Nihilisten?«, hatte Maus einmal Kukuschka gefragt. Ein paar Jahre war das jetzt her. Aber sie hatte dieses Gespräch nie vergessen.
»Warum willst du das wissen?«
»In der Küche hat jemand gesagt, meine Mutter war eine Nihilistin.«
Kukuschka hatte geseufzt. »Das mag wohl richtig sein.«
»Und – wer sind sie?«
»Revolutionäre. Feinde unseres Zaren Alexander. Sie haben seinen Vater, den früheren Zaren, ermordet, und am liebsten würden sie es mit ihm und seiner Familie genauso machen. Sie glauben, jeder Herrscher unterdrücke sein Volk, und sie geben ihm die Schuld daran, dass es so
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