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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nachmittäglichen Tanztees.
    Die alte Frau, die sich von Kukuschka mit ungebrochenem Eifer über die Tanzfläche führen ließ, hatte in der Tat ein wenig Ähnlichkeit mit einer Wasserleiche. Grau und schwammig und totenbleich. Doch der tapfere Kukuschka behandelte sie so galant, als hielte er eine schöne Zarentochter in den Armen. Die beiden schwebten regelrecht durch den Saal, vorbei an den Fischen im Aquarium und einem monströs großen Gemälde der Hotelfassade.
    Sie waren das letzte Paar im ganzen Saal, alle anderen hatten längst ihre Zimmer aufgesucht. Maus wartete geduldig ab, bis die Kapelle ihr Spiel beendet hatte und die müden Musiker ihre Instrumente einpackten. Kukuschka verabschiedete seine geschmeichelte Partnerin mit einem Handkuss und geleitete sie zum Ausgang des Tanzsaals. Hochrot wie ein junges Ding walzte sie davon, während Kukuschka verhalten seufzte und dann endlich Maus begrüßte.
    »Lust auf ein Tänzchen?«, fragte er scheinheilig.
    »Lieber geh ich freiwillig Schuhe putzen.«
    »Oh, heute schlecht gelaunt?«
    »Ich tanze nicht. Das weißt du doch.«
    »Dann fängst du eben jetzt damit an!«
    Und schon fühlte sie sich an der Hand gepackt, nach vorn gerissen und über das Parkett gekreiselt. »Mir wird übel!«, brummelte sie mürrisch, musste sich aber eingestehen, dass diese alberne Tanzerei doch mehr Spaß machte, als sie immer geglaubt hatte.
    Die Musiker riefen Kukuschka einen müden Abschiedsgruß zu, dann verschwanden sie durch eine Seitentür. Maus und er waren jetzt ganz allein in dem riesigen Saal.
    Wortlos und ohne Musik tanzten sie unter den zehn mächtigen Kronleuchtern. Kaskaden aus Licht fielen auf sie herab. Maus ließ sich vertrauensvoll von Kukuschka führen, der sie freundlich anlächelte und in seinem Kopf wahrscheinlich eine der vielen Melodien hörte, die Abend für Abend in diesem Saal erklangen.
    Bald war sie außer Atem. »Es ist ein bisschen traurig, ganz allein zu tanzen, oder?«
    »Nur, wenn man keinen anderen Ort hat, an den man gehen könnte«, sagte Kukuschka. »Und wenn man darauf angewiesen ist, sich von einem fremden Eintänzer Komplimente machen zu lassen, weil niemand sonst mit einem redet.«
    »Ist das so gewesen, vorhin bei der Frau?«
    »Nicht nur bei ihr. Viele Menschen sind einsam. Glaubst du, die Zimmermädchen und Pagen hier im Hotel wären alle so viel glücklicher als du?«
    Tatsächlich hatte sie das immer angenommen, ohne wirklich darüber nachzudenken.
    Kukuschka schüttelte sanft den Kopf. »Man kann auch inmitten einer Menschenmenge einsam sein. Und gerade dort. Wenn sie dich hänseln, tun sie das nicht, weil sie etwas gegen dich haben, sondern nur gegen sich selbst. Andere zu verspotten, lenkt einen davon ab, über sich selbst nachzugrübeln.«
    »Wenn Maxim das nächste Mal versucht, mich umzubringen, kann ich ihn ja in ein tiefsinniges Gespräch darüber verwickeln.«
    Kukuschka lächelte, während er Maus einmal mehr um die eigene Achse wirbelte wie eine Ballerina. »Kannst du nicht einfach akzeptieren, dass Ältere manchmal Recht haben?«
    »Ich hoffe, das kommt von selbst, wenn ich älter bin.«
    »Sollte ich mich vorhin geirrt haben? Kann es sein, dass du tatsächlich gute Laune hast? Wie konnte das denn passieren?«
    Sie blieb mit einem Ruck stehen und löste sich von ihm. Kukuschka vollführte allein eine letzte Drehung und verbeugte sich galant vor ihr.
    Sie hatte gute Laune, auch wenn sie sich das bis jetzt noch nicht klar gemacht hatte. Dabei hätte sie nach allem, was sie von Tamsin erfahren hatte, doch besorgt, gar verängstigt sein müssen. Stattdessen verstärkte sich in ihr das Gefühl, dass endlich etwas geschah in ihrem Leben. Etwas Großes stand bevor.
    »Hast du schon von der Frau aus dem ersten Stock gehört?«, fragte sie. Natürlich hatte er – die halbe Belegschaft sprach von ihr. Maus hatte das Abendessen mit den anderen Jungen und Mädchen eingenommen, weil ausnahmsweise einmal nicht sie selbst und ihre Unzulänglichkeiten Gesprächsthema waren, sondern die »blaue Frau aus dem Ersten«.
    Offenbar – und auch Maus wusste davon nur vom Hörensagen – war Tamsin am Nachmittag ungerührt in den Rauchersalon des Hotels spaziert, hatte es sich in einem der ledernen Sessel bequem gemacht und genüsslich eine Zigarre geraucht. »So lang wie mein Unterarm, ich schwör’s«, hatte einer der Kellner beteuert.
    Zum einen war es vollkommen unerhört, ja skandalös, dass eine Frau es wagte, den Rauchersalon überhaupt zu

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