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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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viele Arme in den Städten und draußen auf dem Land gibt. Sie sagen, der Zar schaue tatenlos zu, wie in jedem Winter tausende von Menschen im ganzen Reich erfrieren. Und jede Woche hunderte verhungern.«
    »Haben sie denn Recht?«
    Kukuschka hatte lange geschwiegen und überlegt.
    »Nein. Ich glaube nicht.«
    »Aber meine Mutter hat das geglaubt, oder? Deshalb ist sie gestorben.«
    »Ja.« Eine noch längere Pause. »Ja, das ist wohl wahr.«
    »Was passiert mit Nihilisten, wenn die Geheimpolizei sie fängt?«
    »Sie werden hingerichtet. Oder nach Sibirien in Straflager gebracht. Am schlimmsten aber trifft es jene, die man ins Gefängnis der Stille steckt.«
    »Ins Gefängnis der Stille?« Davon hatte sie noch nie gehört.
    »Dort ertönt nie irgendein Geräusch. Alle Wärter vor den Zellentüren müssen auf Filzpantoffeln gehen. Jeder von ihnen hat ein Ölkännchen dabei, um die Eisenklappen zu schmieren, durch die sie den Gefangenen das Essen hineinschieben. Niemand dort darf je seine Zelle verlassen. Und keinem ist es erlaubt, ein Wort zu sprechen, auch nicht den Aufsehern, sonst landen sie ganz schnell selbst hinter Gittern.«
    Weil Maus damals noch jung gewesen war, hatte sie eine Weile überlegen und sich das alles erst bildlich vorstellen müssen. »Das ist eine schreckliche Strafe.«
    »Die schrecklichste.«
    »Hat der Zar sie sich ausgedacht?«
    »Einer seiner Vorfahren.«
    »Dann haben die Nihilisten vielleicht Recht«, hatte sie gesagt. Und gemeint: Dann hatte meine Mutter vielleicht Recht.
    Kukuschka hatte sie sehr ernst angesehen. »Sprich so etwas niemals laut aus.«
    Und das hatte sie nie wieder getan.
     
    *
     
    Tamsin wippte nicht mehr auf der Matratze, sondern saß ganz still. Sie hörte Maus jetzt aufmerksam zu.
    »Es war der 13. März 1881«, erzählte Maus. Sie benutzte Kukuschkas Worte, weil sie sich die Geschichte so oft von ihm hatte erzählen lassen, dass sie sie auswendig kannte. Sogar seinen Tonfall imitierte sie, ohne es zu wollen. »Der Zar Alexander – das war Alexander der Zweite, also der Vater von unserem Zaren Alexander dem Dritten – hatte sich vorgenommen, an diesem Tag die Wachtparade in der Sankt-Michails-Manege zu besuchen. Seine Geheimpolizei hatte ihn gewarnt, dass die Nihilisten womöglich ein Attentat auf ihn planten, aber er ließ sich davon nicht abhalten, denn unter den Offizieren, die bei der Parade zum ersten Mal ein Bataillon führten, war auch einer seiner Neffen. Alles ging gut, und nach der Parade beschloss er, der Großfürstin einen Besuch abzustatten. Er saß in seiner prächtigen Kutsche und winkte den Menschen zu, die sich am Straßenrand versammelt hatten. Plötzlich, in einer kleinen Gasse in der Nähe des Katharina-Kanals, flog etwas durch die Luft. Ein Schneeball, dachten alle. Aber es war kein Schneeball, sondern eine Bombe. Sie landete ein ganzes Stück hinter der Kutsche und explodierte. Der Zar ließ anhalten, um sich persönlich nach den Verletzten zu erkundigen. Er war schockiert, als er sah, was die Explosion angerichtet hatte. Und vielleicht – nur ganz kurz – fiel sein Blick auf einen jungen Mann, einen Studenten namens Nikolai Iwanowitsch – er war es, der die Bombe geworfen hatte. Und dann kam auch schon die zweite geflogen, und diesmal traf sie genau ins Ziel. Menschen und Pferde, die Kutsche und der Zar Alexander wurden von der Explosion in Stücke gerissen. Er hat noch ein paar Stunden gelebt, aber schließlich ist er gestorben. Zugleich wurde Nikolai Iwanowitsch verhaftet, und mit ihm viele andere Nihilisten. Sie hatten sich in der ganzen Stadt versteckt, und viele hatten selbst Bomben dabei, um dem Zaren an einer anderen Stelle seines Weges aufzulauern, falls der erste Anschlag misslungen wäre.«
    Maus hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass sie Tamsin nicht langweilte. Aber die Engländerin saß reglos neben ihrem Regenschirm auf dem Bett und hörte angespannt zu.
    »Meine Mutter war hier im Hotel angestellt. Das heißt, eigentlich war sie Studentin, genau wie Nikolai Iwanowitsch. Aber sie hat hier in der Wäscherei gearbeitet, als Hilfskraft. Sie war damals im neunten Monat schwanger. Die Polizei hat ihren Namen auf einer Liste in Nikolais Zimmer gefunden, und als die Männer das Hotel stürmten, um nach ihr zu suchen, versteckte sie sich im Weinkeller. Dort haben sie sie schließlich gefunden, während sie vor lauter Aufregung und Angst ihr Kind zur Welt gebracht hat – und, na ja, das war ich.« Maus lächelte verschämt.

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