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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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betreten, denn er war allein den Herren vorbehalten. Dass Tamsin es aber noch dazu gewagt hatte, in aller Öffentlichkeit zu rauchen, setzte ihrem Fauxpas die Krone auf. Frauen rauchten niemals, schon gar nicht vor anderen. Es gehörte sich einfach nicht. »Und wo kämen wir auch hin«, hatte Maxim beim Essen verkündet, »wenn jedes Weibsbild es sich herausnehmen würde herumzuqualmen.« Niemand hatte ihm widersprochen, auch nicht die Zimmermädchen, von denen ein paar heimlich in einer Kammer im Westflügel gefundene Zigarrenstumpen pafften; Maus hatte sie schon dabei beobachtet.
    Es gab gesellschaftliche Regeln, an die jedermann sich zu halten hatte. Erst recht jede Frau. Hier im Zarenreich galt das ebenso wie anderswo.
    »Eine Unruhestifterin«, geisterte es durch die Korridore des Hotels. »Eine schreckliche Person ohne Moral.« – »Sie verstößt gegen Anstand und gute Sitten.« – »Gegen jeden Benimm.« – »Ein Flittchen!«
    Ein Skandal war das alles, ganz ohne Frage. Und nichts anderes hatte Maus von Tamsin erwartet. Lediglich die Tatsache, dass sie so schnell damit loslegte, überraschte sie ein wenig. Tamsin musste es verteufelt eilig haben, die Schneekönigin auf sich aufmerksam zu machen.
    »Maus? Hallo?« Kukuschka wedelte mit einer Hand vor ihren Augen. Grob wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.
    »Äh … ja?«
    »Du hast mich gefragt, ob ich schon von der Frau mit den blauen Haaren gehört hätte. Und ich hab gesagt, ja, hab ich. Aber du scheinst mir gar nicht zuzuhören.«
    »Tut mir Leid. Ich musste gerade selbst an sie denken.«
    »Du bist ihr schon begegnet?« Seine Stirn legte sich in Falten, und einen Augenblick lang schien er ernstlich besorgt. »Sie hat dir doch keine albernen Flausen in den Kopf gesetzt?«
    »Kuku«, entgegnete sie in ihrem vorwurfsvollsten Tonfall, »der Rundenmann glaubt, ich bin eine Diebin. Alle anderen hassen mich. Meinst du wirklich, ich bräuchte noch mehr Feinde?« Das war – ganz bewusst – keine direkte Antwort auf seine Frage, aber er schien sich damit halbwegs zufrieden zu geben.
    »Sie ist eine skandalöse Person«, raunte er, als hätten die Wände mit einem Mal Ohren. »Ich bin sicher, die Direktion würde sie für die peinliche Szene im Rauchersalon am liebsten vor die Tür setzen.«
    »Was ist denn so peinlich daran?«
    Kukuschkas Empörung war nicht gespielt. »Sie hat geraucht!«
    »Na und? Das tun die Männer doch auch!«
    »Aber sie ist kein Mann!«
    Maus hatte plötzlich Lust, ihn zu reizen. »Und wie wäre das bei mir? Die meisten denken, ich bin ein Junge. Das würde doch heißen, ich könnte einfach –«
    Er unterbrach sie mit einem scharfen Laut der Entrüstung. »Mon dieu!« Französisch sprach er nur, wenn er sich ärgerte. »Das wirst du gefälligst sein lassen!«
    Maus kicherte. Nachdem er sie noch eine Weile länger finster angesehen hatte, zuckten endlich auch seine Mundwinkel. »Ich werde zu alt für so was«, seufzte er. »Ich sollte mich nicht aufregen über … nichts.«
    »Nichts – in der Tat«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
    Beide wirbelten herum.
    Im offenen Portal des Tanzsaals stand Tamsin in einem unerhört kurzen Kleid, dessen Farben in den Augen schmerzten. Sie trug weder Mantel noch Zylinder, aber aus Gründen, die nur sie verstand, hatte sie Koffer und Regenschirm dabei. Beides stellte sie jetzt neben dem Eingang ab und kam mit tänzelnden Schritten auf Maus und Kukuschka zu. Ihre hochhackigen Schuhe klickten und klackten auf dem Parkett wie die Kauwerkzeuge einer Wespenkönigin.
    Kukuschka versteifte sich. »Verzeihen Sie«, sagte er mit gezwungener Freundlichkeit, »die Kapelle ist bereits nach Hause gegangen. Der Saal ist geschlossen.«
    »Aber mit Maus haben Sie doch gerade auch ohne Musik getanzt.« Sie musste schon länger in der Tür gestanden haben, ohne dass es die beiden bemerkt hatten. Sicher hatte sie jedes Wort mit angehört. Der arme Kukuschka! Maus wusste, wie unangenehm ihm manche Dinge sein konnten. Innerlich starb er vermutlich tausend Tode.
    Am meisten jedoch schien ihn zu irritieren, dass Tamsin Maus’ Namen kannte. Später würde sie sich dazu wohl noch einiges anhören müssen. Maus sah ihm an, wie er nach höflichen Worten suchte, um die unerwünschte Engländerin wieder loszuwerden.
    Tamsin strahlte ihn zwischen blauen Lockensträhnen an. »Würden Sie mit mir tanzen, Herr Kukuschka?« Sie klimperte mit den Augen. »Oje! Ich weiß gar nicht, ob Kukuschka ihr Vor- oder Nachname ist! Jedenfalls

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