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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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strampelnden Beinen, aber immer noch geistesgegenwärtig genug, nicht lauthals aufzuschreien.
    Es war nicht der Rundenmann, der sie gepackt hielt und umherschleuderte. Es war – niemand!
    Sie zappelte und schlug um sich, aber dann hatte sie mit einem Mal wieder festen Boden unter den Füßen, stolperte, fiel hin und blieb auf dem Hinterteil sitzen, stützte sich mit beiden Händen ab und hielt die Augen für ein paar Sekunden geschlossen, um wieder zu sich zu kommen. Schließlich hob sie flatterig die Lider.
    Es war nicht leicht, die Wahrheit mit einem einzigen Blick zu erfassen. Sie blinzelte, machte die Augen auf und zu und wieder auf, schüttelte sogar den Kopf, als könnte sie das Bild damit abstreifen. Vergebens.
    Ihr Verstand brauchte eine Weile, um die Information zu verarbeiten. Aber das machte das Ganze nicht vernünftiger. Nicht fassbarer.
    Es war unmöglich. Völlig unmöglich.
    Die Welt stand Kopf. Buchstäblich. Oben war jetzt Unten. Denn Maus saß, ja, sie saß unter der Decke des Schlafzimmers. Sie hing nicht. Schwebte auch nicht. Vielmehr war es, als hätte sich das gesamte Zimmer einfach umgedreht.
    Maus hockte da, wollte am liebsten doch noch schreien, hielt aber den Mund und staunte.
    Die Decke des Zimmers war für sie jetzt der Boden. Ein paar Meter entfernt ragte der Kronleuchter wie ein Gewächs aus Glas in die Höhe. Falls die Welt wirklich gekippt war, umgedreht wie das Innere einer Schneekugel, dann schien dies keine Auswirkungen auf die Schwerkraft zu haben. Die Kette, an der der Leuchter hing, reichte straff gespannt nach oben (unten?), und auch die Gemälde hingen verkehrt herum an den Wänden. Wenn sie den Kopf in den Nacken legte, sah Maus über sich an der Decke die Teppiche liegen, das Rentierfell, die drei Spiegel. Auch die Positionen von Stühlen und Sesseln waren unverändert. Die Bettdecke war glatt gespannt. Die Fransen am Rand des Baldachins baumelten glatt und reglos – nur dass sie aus Maus’ Sicht gar nicht hingen, sondern aufrecht standen.
    Ihr war so schwindelig wie noch nie zuvor, aber das änderte nichts daran, dass sie aufstehen musste. Ihre Instinkte sagten ihr, dass sie sich am besten am Kronleuchter festhielt, für den Fall, dass dieses Phänomen sich auf einen Schlag wieder umkehrte und sie die fünf Meter zurück nach unten fiel. Erst als sie sich dieser Entfernung bewusst wurde, spürte sie, dass ihr alle Knochen wehtaten, denn sie war ja schon gestürzt – vom Boden zur Decke. Gebrochen hatte sie sich wie durch ein Wunder nichts, obgleich sie fühlte, dass sie überall blaue Flecken bekam. Sie hatte Glück gehabt. In gewisser Weise jedenfalls.
    Nicht die Welt hatte sich gedreht, sondern Maus. Sie erkannte es jetzt ganz deutlich an den Schneeflocken draußen vor dem Fenster. Für ihre Augen fielen sie nach oben, aus dem Schwarz des Himmels der Terrasse entgegen, die sich wie der Zimmerboden über Maus befand.
    Hätte sie genug Zeit zum Nachdenken gehabt, wäre sie mit der neuen Lage vielleicht besser klargekommen. Stattdessen aber hörte sie nach wie vor die Stimme des Rundenmannes draußen im Vorzimmer. Das Schleifen und Scharren von Erlens Rücken an der Tür wurde immer hektischer. Dann brach es ab.
    Die Klinke bewegte sich, die Zimmertür schwang auf.
    Maus rührte sich nicht. Blieb einfach unter der Decke sitzen, mit angewinkelten Knien und abgestützten Armen. Der Rundenmann bewegte sich über ihr durch den Raum, mit dem Kopf nach unten. Selbst wenn er auf die Idee gekommen wäre, sie unter der Decke zu suchen, hätte er sie nicht packen können; so groß war nicht einmal er.
    Stattdessen sah er sich flüchtig im Zimmer um, warf einen Blick hinter die Reisekisten und Koffer und ging dann schnurstracks zur Glastür der Terrasse hinüber. Er löste die beiden Riegel, drehte den Knauf und zog die Tür nach innen. Sofort stand er in einer Wolke aus Schnee, die von den Winden hereingewirbelt wurde. Er starrte hinaus in die Nacht, wohl auf der Suche nach Maus, die er augenscheinlich dort draußen im Schneesturm vermutete. Glaubte er denn wirklich, sie hätte genug Angst vor ihm, um das Hotel zu verlassen? Sie gestattete sich ein stummes Seufzen. Es gab Schrecken, die selbst die Aussicht auf eine Begegnung mit seinen Fäusten überstiegen.
    Was ist mit deinen Vorsätzen? Du wolltest doch üben, dort hinauszugehen! Du wolltest – Sie unterbrach sich selbst, als sie Erlen ins Schlafzimmer treten sah. Allmählich begann ihr Nacken zu schmerzen, weil sie den Kopf so

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