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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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weit zurücklehnen musste. Er brauchte nur wenige Augenblicke, ehe er begriff, was geschehen war. Sein Blick streifte das Fell und wanderte an der Wand hinauf zur Decke. Dort entdeckte er Maus. Sie zuckte nur die Achseln und schenkte ihm ein Lächeln, das gleichzeitig bedeuten sollte, dass es ihr Leid tat – und dass sie Hilfe brauchte, um wieder von hier oben hinunterzukommen.
    Nur dass es für sie nicht oben, sondern nach wie vor unten war. Für sie, und nur für sie allein, hatte sich die Welt auf den Kopf gestellt.
    Der Rundenmann stapfte hinaus in die Kälte. Innerhalb weniger Sekunden war er in Schneetreiben und Dunkelheit verschwunden. Warum hielt er nicht einfach nach Fußspuren Ausschau? Musste er, um ganz sicherzugehen, wirklich die ganze Terrasse nach ihr absuchen? Womöglich war er nicht ganz so helle, wie sie immer befürchtet hatte.
    Erlen gab ihr mit einem kurzen Wink zu verstehen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Er mochte Recht haben. Wie auch immer sie hier heraufgekommen war, es war im Augenblick der sicherste Ort für sie. Offenbar suchte der Rundenmann sie eher dort draußen in der Eiseskälte als hier drinnen unter der Zimmerdecke.
    Ungeachtet aller Vorsicht versuchte sie aufzustehen. Es ging ganz mühelos, abgesehen von dem Schmerz in ihren geprellten Gliedern. Sie stand jetzt aufrecht, ganz fest, ganz sicher, ohne das leichteste Schwanken. Die Decke war jetzt ihr Boden. Sie konnte mit normalen Schritten zum Kronleuchter hinübergehen und seine straff gespannte Kette berühren. Ansonsten war die tapezierte Fläche zu ihren Füßen vollkommen leer. Nichts außer dem Leuchter hing von der Decke des Schlafzimmers herab.
    Ihr erster Gedanke war, hinüber zur Zimmertür zu laufen. Aber der Raum war fünf Meter hoch, die Tür selbst vielleicht zweieinhalb. Selbst wenn Maus die Arme ausstreckte, käme sie nicht an den oberen Türrand heran, geschweige denn, dass sie hindurchgehen und ins Vorzimmer hätte fliehen können.
    Als ihr das Fatale dieser Erkenntnis bewusst wurde, überkam sie eine ganz neue Furcht, ungeachtet ihrer heillosen Verwirrung über die veränderte Umgebung: Sie war in diesem Raum gefangen wie in einer übergroßen Schale. Es gab nichts, auf das sie hätte klettern können, um doch noch an die Tür heranzukommen. Denn alle Stühle und Tische waren ja über ihr und zeigten nicht die geringste Neigung, sich gleichfalls gegen die Schwerkraft aufzulehnen und zu Maus unter die Decke zu fallen.
    Einen einzigen Fluchtweg gab es vielleicht. Die Fensterfront besaß Oberlichter, kleinere Fenster, die in einer Reihe über den anderen angebracht waren und für gewöhnlich verschlossen blieben. Dennoch besaßen sie Hebel, um sie zu öffnen; im Sommer übernahm das ein Bediensteter mit einer langen Stange, an deren Ende ein Haken angebracht war. Maus hingegen käme von der Decke aus mit bloßer Hand an die Riegel heran.
    Aber was dann? Sie konnte eines der Oberlichter öffnen, na und? Damit stünde ihr nur der Weg ins Freie offen.
    Der Rundenmann war noch immer im Schneetreiben abgetaucht. Seine dunkle Uniform machte es unmöglich, ihn in der Nacht zu erkennen. Was trieb er dort draußen? Blickte er hinter jeden Pflanzenkübel? Man hätte meinen mögen, dass ihn in Anbetracht der Kälte und Finsternis nichts im Freien hielt. Aber wie es schien, wollte er ganz sicher gehen, Maus nirgends zu übersehen.
    Beinahe hätte die Vorstellung, wie er dort draußen fluchend im Schnee herumstolperte, sie lächeln lassen. Aber bei näherer Überlegung war ihr nun wirklich nicht nach Lachen zu Mute.
    Sie war ihr Leben lang anders gewesen. Aber nicht so anders. Nicht auf den Kopf gestellt.
    Erlen gab ihr mit einem neuerlichen Wink zu verstehen, sich nicht zu rühren. Der Rundenmann kam zurück ins Zimmer, klopfte sich eine dicke Schneeschicht von Schultern und Haar und warf die Glastür dann so heftig hinter sich zu, dass die Scheiben bebten. Auch der Kronleuchter klirrte, und Maus dachte panisch, dass der Mann nun doch noch heraufschauen würde.
    »Keine Spur von ihr«, sagte er zu dem Jungen, der nur die Achseln hob, so als wollte er sagen: Wundert mich gar nicht, aber Sie wollten mir ja nicht glauben, oder?
    Noch einmal schaute sich der Rundenmann um, ohne zur Decke zu blicken. Dann machte er sich auf den Weg ins Vorzimmer.
    Plötzlich blieb er stehen. Maus brach der Schweiß aus. Erlen zuckte zusammen, nahm dann aber all seinen Mut zusammen, straffte sich und trat am Rundenmann vorbei, um ihn aus dem

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