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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schwindelig vor Aufregung.
    Die gesamte Umgebung schien zu vibrieren. Sie hatte fürchterliche Angst.
    Kein Laut ertönte hinter der Tür. Falls die Schneekönigin wirklich hier war, so musste sie dort drinnen ganz still stehen. Maus stellte sie sich vor: eine unheimliche, starre Gestalt in einer Ecke des Raumes, so bleich wie ein Geist, stumm und abwartend. Aber worauf mochte sie warten?
    Vielleicht, dass jemand es wagte, der Tür einen Stoß zu geben und hereinzukommen. Oder auch nur ganz, ganz vorsichtig durch den Spalt zu spähen.
    Maus hatte einmal beobachtet, wie eine Kellerspinne vollkommen reglos im äußersten Winkel ihres Netzes auf Beute wartete – und dann blitzschnell nach vorn zuckte, das gefangene Insekt mit allen acht Beinen umklammerte und aussaugte. Der Gedanke ließ sie schaudern, und sie zog abrupt ihren Kopf zurück.
    Frierend und verängstigt machte sie sich auf den Weg zurück zum Treppenhaus. Erst ganz langsam, den Rücken noch immer an der Wand, dann schneller und schneller, bis sie Zimmer, Flur und Kälte hinter sich ließ und das Treppenhaus endlich wieder vor sich sah.
    Ein Klingeln verriet, dass der Lift eintraf. Maus blieb misstrauisch stehen. Die Gittertür lag auf halber Strecke zwischen ihr und dem offenen Durchgang zum Treppenhaus. Licht fiel durch die Messingstäbe, zu wabernden Fächern zersplittert durch dichte Atemwolken, als der Junge im Inneren etwas zu seinem Fahrgast sagte. Es musste kalt dort drinnen sein. Noch kälter als im Korridor vor Tamsins Zimmer.
    Maus biss sich auf die Unterlippe und glitt in den Schatten eines Türbogens, hinter dem ein anderer Flur abzweigte. Hier brannte kein Licht. Wer aber vom Hauptflur einen Blick um die Ecke warf, musste sie dennoch unweigerlich bemerken.
    Das Gitter rasselte zur Seite. Maus erkannte die Stimme des Liftjungen, als er seinen Gast mit einem leisen »Gute Nacht, Madame« verabschiedete. »Und vielen Dank für Ihre Großzügigkeit.« Es war Maxim.
    Etwas Hohes, Weißes rauschte wie eine Schneewehe an der Korridormündung vorüber und verschwand wieder. Die Kälte, die damit einherging, traf Maus mit einem Augenblick Verspätung; dann aber war es, als hätte man sie kopfüber in einen Bottich mit Eiswasser getaucht. Dagegen war die Kälte vorhin auf dem Flur nicht stärker gewesen als jene, die durch ein offenes Fenster hereinwehte.
    Die Schneekönigin war längst an ihrem Versteck vorüber, aber noch immer wagte Maus nicht, auch nur einen Finger zu rühren. Sie hätte auf Tamsin hören und gleich über die Treppen nach oben laufen sollen, dann wäre ihr diese Begegnung erspart geblieben. Andererseits bekam sie nun leise Zweifel an Tamsins Verlässlichkeit: Ebenso gut hätte sie der Königin auf dem Korridor vor der Suite über den Weg laufen können.
    Sie zählte in Gedanken bis drei, dann spurtete sie los. Sie blickte nicht nach links – die Richtung, in der die Königin verschwunden war –, sondern sprang gleich um die rechte Ecke, rannte an dem geschlossenen Aufzuggitter vorbei und in die vermeintliche Sicherheit des Treppenhauses.
    Hat sie mich gesehen?, durchfuhr es sie panisch. Verfolgt sie mich? Wohl kaum. Das, worauf es die Königin abgesehen hatte, befand sich in Tamsins Zimmer. Sicher hatte sie längst vergessen, dass Maus überhaupt existierte.
    Die Treppen schienen kein Ende zu nehmen, Maus waren sie noch nie so lang vorgekommen. Sie zählte die Stufen bis zum nächsten Absatz, begann dann wieder bei eins. Als sie endlich oben ankam, war sie so außer Atem, dass sie sich mit einer Hand am Geländer abstützen musste.
    Weiter! Mach schon! Ausruhen kannst du den ganzen Tag!
    Während sie durch die Flure der Suitenetage jagte, fragte sie sich, ob Erlen überhaupt wollte, dass man ihm half. Sie wusste nichts über ihn, konnte sich nur auf Tamsins Worte verlassen. Was, wenn er als Junge viel glücklicher war, statt als Rentier in den kalten Stallungen zu schlafen?
    Sie erreichte den langen Flur, an den der säulengeschmückte Eingang der Zarensuite grenzte. Das Relief des brüllenden Bären über der Tür erschien ihr viel lebensechter als sonst.
    Sie blieb stehen, leicht vornübergebeugt, weil sie so außer Puste war, hob die Hand und pochte gegen die Tür.
    Ganz kurz war ihr, als hätte sie in der Ferne ein Läuten gehört, wie bei der Ankunft des Lifts. Aber das Geräusch wurde vom Klopfen übertönt. Nur ihre Einbildung. Die Königin konnte unmöglich so schnell zurück sein.
    Es sei denn … ja, es sei denn, Tamsin

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