Frostfeuer
den Haupteingang aus freien Stücken zu öffnen. Wie weit würde der Rundenmann gehen? Ganz sicher wagte er es nicht, die Tür der Zarensuite aufzubrechen. Oder doch?
Maus wich einige Schritte zurück, traute sich aber nicht, den Blick von der Tür zu nehmen. Dabei war sie am Ziel.
Sie stand im Schlafzimmer der Schneekönigin. Das Rentierfell lag in greifbarer Nähe.
Und doch …
Draußen öffnete Erlen die Haupttür. Sie hörte die Klinke zurückschnappen, als er sie gleich wieder losließ, so als hätte er sich die Finger daran verbrannt.
Stimmengemurmel des Rundenmannes, dann erneut das Klappern der Tür. Maus war nicht sicher, was dort draußen geschah. War er wieder fort? Oder war er jetzt in der Suite?
Sie hörte Erlens raschelndes Tänzeln – und festere, kraftvolle Schritte. Mehr Türengeklapper.
»Keine Sorge«, sagte der Rundenmann ganz in ihrer Nähe. »Das hat alles seine Ordnung.«
Tür auf, Tür zu.
Er durchsucht die ganze Suite!, durchzuckte es Maus. Ein Zimmer nach dem anderen.
Sie wirbelte herum und wollte zugleich nichts überstürzen. Wenn sie einen Laut von sich gab, irgendetwas umstieß, auch nur zu heftig mit den Absätzen auftrat, würde er sie auf der Stelle entdecken.
Wie viele Türen führten aus dem Vorzimmer? Suchte er sie erst im Bad? Vielleicht gar in den Wandschränken? Ganz bestimmt würde er sichergehen wollen, dass sie nicht hinter seinem Rücken aus irgendeinem Versteck sprang und zur Tür hinaus auf den Korridor floh. Nein, dachte sie, diesmal würde er gründlich sein. Vielleicht gab ihr das ein wenig Zeit. Wenn auch nicht mehr als ein paar Sekunden.
Sie schaute sich im Schlafzimmer um. Neben ihr standen die großen Überseekoffer und Reisekisten, in denen die Königin weiß der Teufel was transportieren mochte. Die hohen Fenster zur Dachterrasse waren vom Panorama der Winternacht erfüllt, die breite Glastür verriegelt. Drei flackernde Kerzenleuchter waren die einzigen Lichtquellen. Ihr Schein erhellte Myriaden Schneeflocken, die von außen gegen die Scheiben wehten und am Netz der Eisblumen kleben blieben.
Einen anderen Fluchtweg aus dem Schlafzimmer gab es nicht. Doch lieber fiel Maus dem Rundenmann in die Hände, als nach draußen zu gehen. Abgesehen von ihrer Furcht vor dem Freien – wohin hätte sie sich dort wenden sollen? Die Terrasse war eine Sackgasse, genau wie dieses Zimmer, fünf Stockwerke über dem Newski Prospekt.
Das Himmelbett war unberührt, Kissen und Decke glatt gezogen. Vielleicht, wenn sie unter das Bett kroch … Doch was immer sie tat, sie musste es rasch tun.
Da fiel ihr Blick auf das Rentierfell in der Ecke. Es lag noch genauso da wie bei ihrem ersten Besuch. Die trockene schwarze Nase schaute halb darunter hervor, mehr war vom Gesicht nicht zu sehen. Der Rest war zerknüllt und mit herzzerreißender Achtlosigkeit auf den Boden geworfen worden. Auch die drei Spiegel lagen noch da, das Kristallglas zur Decke gerichtet.
Sie horchte auf das Rumoren des Rundenmannes im Nachbarzimmer, wog ihre Chancen ab – null, ganz gleich, was sie tat – und eilte auf das Fell zu. Wieder sah sie Erlens Miene vor sich, diese entsetzliche Trauer in seinen Augen. Falls es ihr irgendwie gelingen sollte, doch noch von hier zu entkommen, dann auf jeden Fall mit dem Fell.
Die drei Spiegel waren zu einer Art Viertelkreis angeordnet, obwohl ihre Abstände zueinander jeglicher Symmetrie entbehrten. Ihre Lage wirkte überraschend willkürlich, übersah man einmal die Seltsamkeit der Tatsache, dass sie überhaupt hier auf dem Boden lagen.
Draußen donnerten die Schritte des Rundenmannes heran, begleitet von Erlens ungleich schnellerem Trappeln. Etwas raschelte am Furnier der Tür entlang, und Maus stellte sich vor, wie der Junge sich mit dem Rücken gegen das Holz presste, beide Arme im Türrahmen ausgebreitet, um dem Mann den Zutritt zum Schlafzimmer zu verwehren.
Armer Erlen. Wie es aussah, hatte sie ihn in nur noch größere Schwierigkeiten gebracht. Sie war gekommen, um ihm zu helfen, und nun war es abermals er, der ihr half. Der Gedanke hätte wehgetan, wäre ihr mehr Zeit geblieben, um darüber nachzugrübeln. So aber machte sie impulsiv einen Schritt nach vorn, um das Fell zu ergreifen, beugte sich über die Spiegel hinweg – und wurde von etwas gepackt, das sie im allerersten Moment für die Pranke des Rundenmannes hielt. Sie wurde von den Füßen gerissen, durch die Luft gewirbelt wie eine Puppe, scheinbar gewichtslos, mit kreisenden Armen und
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