Frostfeuer
einem Sturz in den Himmel
Der Riegel war seit Wintereinbruch nicht mehr bewegt worden. Er ließ sich nicht drehen. Wahrscheinlich war er in der Kälte festgefroren. Maus’ Furcht wurde zu ausgewachsener Panik. Sie hatte noch nie, wirklich nie, solche Angst gehabt. Ihre Finger krallten sich um den Metallgriff, rüttelten und zerrten daran. Niemals hätte sie für möglich gehalten, dass sie irgendwann einmal mit aller Macht nach draußen gelangen wollte.
Im Vorzimmer ertönte wieder die Stimme der Schneekönigin. Sie stieß ein schmerzerfülltes Stöhnen aus. Irgendetwas musste Tamsins Falle bewirkt haben, wenn auch nicht, ihre Gegnerin endgültig zu bezwingen. Maus war nicht sicher, ob ihr eine verletzte Königin lieber war als eine gesunde. Ihr Zorn würde umso furchtbarer sein, wenn sie Maus hier entdeckte.
Maus’ Fingerknöchel leuchteten weiß durch die Haut, Adern erschienen bläulich auf ihrem Handrücken; etwas in ihrem Unterarm verkrampfte sich, als sie noch heftiger am Fenstergriff drehte. Nichts. Er bewegte sich keinen Millimeter.
Verzweifelt begann sie, auf das Metall zu hauchen, in der absurden Hoffnung, das eingefrorene Gelenk damit aufzutauen. Ihr blieb keine Zeit mehr. Falls die Königin wirklich angeschlagen war, würde sie sich auf ihr Bett legen wollen.
Stimmen ertönten jetzt keine mehr. Stattdessen schleifende Laute. Unvermittelt ein schmerzerfüllter Aufschrei. Dann wieder Erlens aufgeregtes Trappeln.
Maus wollte sich zur Ruhe zwingen, aber es gelang ihr nicht. In wenigen Augenblicken würde die Königin hereinkommen und sie entdecken. Und in der Außenwelt warteten weitere Schrecken, denen sie sich nicht gewachsen fühlte. Beide Möglichkeiten konnten nur in einer Katastrophe enden.
Die Laute vor der Tür kamen näher. Erlens Schritte. Wieder das Schleifen. Wahrscheinlich stützte er seine Herrin auf dem Weg ins Schlafzimmer.
Der verdammte Fenstergriff!
»Oh nein!«, flüsterte Maus. Sie hatte mit einem Mal erkannt, was sie falsch gemacht hatte. Weil sie selbst auf dem Kopf stand, musste sie den Griff natürlich in die andere Richtung drehen! Sie versuchte es, und nach einigem Rütteln gab er nach.
Das Fenster schwang auf. Schnee stob ins Zimmer, in Maus’ Gesicht, in ihre Augen. Sie achtete nicht darauf, holte tief Luft, als wollte sie in Wasser tauchen, packte den Fensterrahmen mit beiden Händen und zog sich hindurch.
Im ersten Moment war es viel leichter, als sie befürchtet hatte. Es gab keine unsichtbare Mauer, die sie davon abhielt, das Gebäude aus eigenem Willen zu verlassen. Es gab nur sie und den Schnee.
Und dann, unvermittelt, die Erkenntnis grenzenloser Leere.
Das Gefühl traf sie wie ein Schuss aus dem Dunkeln. Es war mehr als Angst, mehr als die pure Panik vor der Außenwelt. Etwas langte mit scharfen Krallen in ihren freien Willen, wühlte darin, bis es die empfindlichen Stellen fand, und packte dann gnadenlos zu. Maus riss den Mund auf, wollte schreien. Doch über ihre Lippen drang kein Laut. Sie bekam keine Luft mehr, konnte sich nicht bewegen.
Hinter ihr kippte die Klinke der Zimmertür. Maus steckte noch immer im Fenster. Zitternd blickte sie über ihre Schulter.
Die Tür ging auf.
Du musst raus! Jetzt!
Erlen kam als Erster herein, rückwärts. Nervös blickte er nach oben, sah Maus im offenen Fenster. Er ging vorgebeugt, seine Arme waren um den Oberkörper der Königin geschlungen. Sie hing lang ausgestreckt in seinem Griff, ließ sich von ihm ins Zimmer ziehen, bewegte die Füße, um sich vom Boden abzustoßen, war ihm aber kaum eine Hilfe. Maus erkannte noch, dass sie irgendwie verändert aussah, aber dann hatte sie sich schon mit geschlossenen Augen ins Freie gezogen.
Über dem Fenster verlief ein gemauerter Sims, kurz unter dem Beginn der Dachschräge. Maus’ Füße fanden darauf Halt. Sie hatte gehofft, dass der Zauber hier draußen seine Wirkung verlieren würde, doch das war ein Trugschluss – auch die Außenwelt stand auf dem Kopf. Das nächtliche Panorama der Stadt hing über ihr wie eine versteinerte Wolkendecke, und unter ihr war nichts als Himmel.
Eine Weile spürte sie nur noch Entsetzen, während sie verkehrt herum auf der Unterseite des Simses kauerte. Die Weite, die Leere der Welt waren immer schon schlimm genug gewesen, um sie zu lähmen; aber dass sich der Himmel jetzt unter ihr befand und sie in ihn hinabzustürzen drohte, das war zu viel.
Sie fühlte sich, als befände sie sich auf der Oberfläche eines Ozeans, aus dem auf einen
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