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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schlag alles Wasser verschwunden war. Der Abgrund war bodenlos. Niemals zuvor hatte sie die Unendlichkeit der Nacht so stark empfunden wie in diesem Augenblick. Nie war sie ihr grauenvoller erschienen.
    Wie lange sie so da hockte, wusste sie nicht. Erneut hatte sie im Freien jegliches Zeitgefühl verloren. Erst nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass sie vom Schlafzimmer aus noch immer zu sehen war. Bebend drehte sie den Kopf und blickte durch das offene Oberlicht ins Innere.
    Die Königin lag jetzt auf ihrem Bett. Erlen umsorgte sie, hielt ihre Hand, während sich ihre flache Brust rasend schnell hob und senkte. Sein Blick flackerte von seiner Herrin herauf zum Fenster. Er wagte nicht, Maus ein Zeichen zu geben.
    Die Schneekönigin hatte den linken Arm angewinkelt und über ihre Augen gelegt. Maus konnte nicht viel von ihrem Gesicht erkennen: Die Lippen hatten jegliche Farbe verloren, das Kinn erschien ihr hexenhaft spitz. Der Körper in dem engen weißen Kleid wirkte nicht mehr schlank, sondern abstoßend hager. Ihre Beckenknochen stachen hervor wie scharfe Felsgrate.
    All das aber nahm Maus nur schattenhaft wahr. Die Angst vor einem Absturz in den Nachthimmel verhinderte jeden klaren Gedanken. Sie musste fort. Irgendwie fort.
    Ihre Gelenke waren eingefroren, als sie sich endlich in Bewegung setzte. Es war ähnlich wie auf der Feuertreppe, als sie eine Ewigkeit für ihre ersten Schritte gebraucht hatte – und doch wiederum ganz anders. Auf der Treppe hatte sie allerhöchstem ein paar Stufen weit fallen können. Hier aber würde sie geradewegs in die Schneewolken stürzen, durch sie hindurch in die Nacht hinein, ins schwarze Reich der Sterne. Sie konnte diesen Gedanken nicht weiterspinnen. Sie stieß an die Grenze dessen, was vorstellbar war. Wie bei dem Versuch, sich auszumalen, was nach dem eigenen Tod auf einen wartet: Weiter als bis zu dem Punkt, an dem man einfach nicht mehr da ist, reicht die menschliche Vorstellungskraft nicht.
    Der Himmel, die Sterne, dann nichts mehr. Vielleicht würde sie bis in alle Ewigkeit durch leeres schwarzes Nichts fallen.
    Mit dem Kopf nach unten schob sie sich an der Mauer entlang. Sie sah nicht nach hinten, wo die steinerne Masse Sankt Petersburgs bedrohlich über ihr schwebte. Der Sims war nicht breit und noch dazu leicht abgerundet. An seiner Unterseite lag kein Schnee, dafür brachen ihre Füße bei jedem Schritt Eiszapfen ab, manche so lang wie ihr Unterarm. Wie gläserne Dolche fielen sie an ihrem Körper herauf und verfehlten nur knapp ihr Gesicht, bevor sie über ihr in den Schneewehen auf der Terrasse versanken.
    Täuschte sie sich, oder waren die Zapfen an den Fenstern vor ein paar Tagen nicht einmal halb so groß gewesen?
    Sie versuchte, so lange wie möglich die Augen geschlossen zu halten und ihren Halt nur durch Tasten zu finden. Hin und wieder blinzelte sie unter ihren Lidern hervor, sah aber nur an der Mauer entlang, um festzustellen, wie weit es noch bis zur nächsten Ecke war. Maus erreichte sie, kletterte mit Millimeterschrittchen um sie herum und schob sich dann an der Seitenwand des Gebäudes weiter. Über ihr war jetzt keine Terrasse mehr, sondern der Schlund einer Gasse. Sie konnte den Boden nicht erkennen, aber das spielte im Augenblick keine Rolle; das war nicht die Richtung, in die sie stürzen würde, falls sie abrutschte.
    Ein Eiszapfen traf von unten ihr Gesicht. Es fühlte sich an, als hätte jemand mit einer Nadel in die empfindliche Haut zwischen Hals und Kinn gestochen. Vor Schreck und Schmerz verlor sie beinahe das Gleichgewicht, schrie auf, wedelte ein paar Sekunden lang mit einem Arm, verrenkte ihren Oberkörper – und fiel irgendwie zurück gegen die Wand.
    Zitternd schob sie sich weiter. Unter dem Sims befand sich nur noch die Unterseite der Dachrinne, dann nichts mehr. Mehrmals streifte sie die Oberlichter der übrigen Suiten, alle unbewohnt. Die Fenster waren verriegelt, natürlich, und das Glas war zu fest, um es mit bloßer Hand einzuschlagen. Sie hätte sich nur die Hände aufgeschnitten und wäre danach erst recht abgestürzt.
    Unter ihr gähnte der Nachthimmel und trieb ihr noch größere Schneeflocken in die Augen. Wir kriegen dich, wisperten die Winde, die tückisch um sie herumstrichen. Du entkommst uns nicht.
    Die Struktur der Mauer änderte sich, der Sims wurde schmaler. Da erkannte Maus, dass sie sich bereits an der gesamten Seitenwand des Hauptgebäudes entlanggehangelt hatte. Jetzt befand sie sich auf Höhe des

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