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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ursprünglichen Hotels, dort, wo die Geschichte des Aurora einst ihren Anfang genommen hatte.
    Gleich vor Maus lag ein Fenster. Im Dunkeln war es schwer auszumachen, weil innen kein Licht brannte, aber als sie es erreichte, erkannte sie es wieder. Gott, sie hatte gehofft, es bis hierher zu schaffen! Hinter dieser Scheibe, verkrustet mit Eisblumen und Schmutz, lag das bodenlose Treppenhaus. Die Fensterrahmen waren morsch, das Glas dünn. Es hatte einen verästelten Sprung.
    Maus trat so weit wie möglich zur Seite, zog ihre Hand zurück in den Ärmel ihrer Uniformjacke und ballte sie zur Faust. Die Kälte hatte ihre Finger steif werden lassen, und sie dachte benommen, dass es dadurch vielleicht nicht so wehtun würde. Eine vage Hoffnung. Aber einen anderen Weg ins Innere gab es nicht.
    Ein letzter, vorsichtiger Blick nach unten, in den schneewirbelnden Nachthimmel, um sich selbst einen Ruck zu geben. Dann holte sie aus und schlug gegen das vereiste Glas. Nicht fest genug. Noch ein Versuch. Erst beim dritten Mal brach die Scheibe. Scharfe Glasklingen fielen an ihr herauf und verschwanden lautlos in der schwarzen Gasse. Keine traf sie. Nur ihre Hand schmerzte, aber Maus sah kein Blut.
    Sie langte durch das Loch im Glas und zerrte am Fensterriegel. Die Reste der Scheibe schwangen nach innen. Abermals klirrten Scherben, diesmal auf der Steintreppe.
    Das Schneetreiben blieb zurück, als sich Maus verkehrt herum ins Innere zog, ein paar Atemzüge lang im Fensterrahmen hocken blieb und schließlich sprang.
    Einen Herzschlag lang glaubte sie, sie hätte sich verschätzt. Sie fiel und traf auf keinen Widerstand. Dann aber kam sie umso härter auf, rollte eine Schräge hinab, fast über eine Kante hinweg, aber eben nur fast … und blieb schwer atmend liegen.
    Sie befand sich jetzt auf der Unterseite der breiten Wendeltreppe. Hier gab es keine Stufen, stattdessen war die schräge Fläche glatt und mit den Fetzen alter Tapete bedeckt. Die Kante neben ihr war der Rand der Treppe; wäre sie dort hinübergerollt, hätte der Schwung sie geradewegs in die gläserne Kuppel getragen, die das Treppenhaus krönte. Das Glas und seine blumenförmigen Streben hätten sie wohl kaum halten können, wären zerbrochen, und Maus wäre doch noch in den Himmel – Hör schon auf damit!
    Sie zwang sich, eine Weile liegen zu bleiben, auszuruhen, nachzudenken. Nicht weit von hier, ein Geschoss tiefer, zweigte ein schmaler Gang ab. An seinem Ende lag eine winzige Tür, die auf der anderen Seite tapeziert und fast unsichtbar war. Maus hatte sie schon viele Male benutzt. Die Decke war in dem engen Korridor nicht hoch, Maus würde die Tür wohl auch von oben aus erreichen können. Dahinter befand sich der vierte Stock des Aurora, die Etage unterhalb der Suiten.
    Sie wartete ab, bis sich ihr Atem beruhigt hatte. Dann rappelte sie sich auf, rieb sich die halb erfrorenen Finger warm und machte sich an den Decken entlang auf den Weg.
Das Kapitel über die Befreiung von Worten und Tieren
    Tamsin riss die Tür ihres Hotelzimmers auf und starrte auf den leeren Flur. »Maus?«
    »Hier oben.«
    »Oh nein!«
    »Hallo, Tamsin.« Maus’ blaue Lippen zitterten und weigerten sich, ein Lächeln zu formen.
    Tamsin streckte ihr eine Hand entgegen. Maus ergriff sie kopfüber von ihrem Platz unter der Decke aus.
    »Du bist ja ganz durchgefroren!«
    »Fällt dir vielleicht noch was auf?«
    »Ja … ja, du hast natürlich Recht.« Tamsin drückte ihre Hand und ließ sie gleich wieder los. »Dagegen müssen wir als Erstes etwas unternehmen.«
    Sie verschwand wieder in ihrem Zimmer und ließ Maus auf dem Korridor zurück. Niemand sonst war zu sehen. Obgleich das Aurora noch dasselbe altvertraute Gebäude war, schien es sich doch aus Maus’ Perspektive in eine vollkommen neue Welt verwandelt zu haben.
    Es war erstaunlich, wie anders alles aussah, wenn es auf dem Kopf stand. Voll gestopfte Flure wirkten mit einem Mal leer und kahl, weil ja alles unter der Decke klebte und es am Boden weder Teppiche noch Möbel gab, nur vereinzelte Lampen. Treppenhäuser verwandelten sich in Rutschbahnen ohne Geländer. Und plötzlich war alles schmutzig und eingestaubt, weil Maus in all jene Winkel sehen konnte, an die von unten niemand herankam.
    Tamsin trat wieder auf den Flur. Sie trug jetzt ihre zerknüllte Bettdecke und den alten Lederkoffer in den Händen. Die Decke warf sie zu Maus hinauf, die sie bibbernd mit beiden Händen fing.
    »Wickel dich darin ein.«
    Maus versuchte zu tun, was

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