Frostherz
ich auf keinem der Bilder zu sehen bin, wie ich drangehe, fällt das doch eh auf, oder?«
Enttäuscht ließ sich Cornelius auf das Sofa fallen. Sein Blick wanderte über die Wand hinter dem Fernseher, an der mindestens zehn Fotos von Annes Mutter hingen.
»Ist sie das?«, fragte er.
Anne nickte.
»Sie hätte das bestimmt nicht gewollt, dass du so lebst.«
Er hatte recht, natürlich hatte er recht.
»Da hilft nur noch eins.« Er sah sie nachdenklich an. »Was ist nachts mit den Kameras?« Anne hob die Schultern, ließ sie sinken.
»Na ja, bevor er schlafen geht, schaltet er sie ab, spätestens. Dann brauchen wir sie ja nicht mehr.«
»Das heißt…« Ein kleines Lächeln schlich sich in sein Gesicht. »Das heißt, wenn er schläft, überwacht dich niemand mehr.« Anne sah ihn erschrocken an.
»Na, Mann, dann kannst du doch aus dem Fenster klettern und abhauen. Wann geht er abends ins Bett?«
»Nein, das kann ich nicht machen. Ich will das gar nicht. Was soll ich denn nachts draußen allein?« Sie war fast empört.
Cornelius schüttelte sanft den Kopf. »Wer spricht denn von allein? Du kannst dich mit mir treffen. Es gehen nicht alle Menschen in unserem Alter abends um zehn ins Bett. Es gibt da so was – man nennt es Klub, Diskothek, Kneipe –, weißt du, die haben alle um die Zeit noch offen.« Anne griff nach einem der dicken Sofakissen und schlang ihre Arme darum.
»Verarschen kann ich mich alleine.«
Cornelius versuchte, ihr das Kissen zu entwinden. Sie ließ nicht locker.
»Mann, Anne«, meckerte er. »Ich dachte, du willst dich befreien. Ich dachte, du wärst gerne mit mir zusammen unterwegs. Aber wenn du nicht willst, bitte.« Er stand auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab, rückte einen der schweren Essplatzstühle zurecht, fuhr mit der Hand über die lachsfarbene Tischdecke.
»Außerdem«, er kam wieder näher. »Was passiert denn im schlimmsten Fall? Wenn er dich erwischt? Hausarrest kann er dir kaum geben, den hast du eh schon. Meinst du, er verprügelt dich?« Anne schüttelte den Kopf.
»Was also dann?«
»Er wird enttäuscht sein. Maßlos enttäuscht. Oder eine Panikattacke bekommen. Er hatte schon mal eine. Das war grauenhaft! Ich war neun und wir haben uns auf einem Markt verloren. Nach einer halben Stunde habe ich ihn gefunden. Er war käseweiß im Gesicht und zitterte am ganzen Körper, fast wäre er in Ohnmacht gefallen.«
»Aber das erleidet dann doch er. Verstehst du? Hauptsache, er wird dir nichts tun! Das ist entscheidend!«
»Aber ich hab dann so ein schlechtes Gewissen. Wenn er meinetwegen leiden muss.«
Cornelius drehte sich schnell auf den Fersen um die eigene Achse, starrte dabei an die Decke. Er zischte etwas Unverständliches.
»Okay«, sagte Anne schließlich. Sie stand auf, ließ das Kissen fallen. »Vielleicht hast du recht. Einen Versuch kann ich ja machen. Hast du auch schon eine Idee für einen ersten Ausflug?«
»Allerdings«, sagte er und die nachmittägliche Sonne spiegelte sich in seinen dunklen Augen. Als habe jemand ein Licht angezündet.
Er hätte nie gedacht, dass er sie dazu überreden könnte. Noch dazu mit so einer – zugegebenermaßen – albernen Idee. Aber es juckte ihn in den Fingern. Er musste diesem ätzenden Brunner einfach eins auswischen. Um halb zwölf heute Abend würde er Anne abholen. Hoffentlich kniff sie nicht.
Er lehnte das Fahrrad an die Gartenmauer des Hauses. Schade, dass der Schatz, den er vor einiger Zeit in dem Schuppen im Garten entdeckt hatte, noch immer nicht startklar war. Das Geld für die Reparatur kam nur langsam zusammen. Er musste unbedingt etwas dafür tun. Und dann: Auf Wiedersehen, Fahrrad!
Er ging die vier Stufen zum Eingang des Hauses empor, das seine Mutter vor drei Jahren von einer Tante geerbt hatte. Obwohl er jetzt schon knapp zwei Jahre hier wohnte, hatte er sich noch immer nicht daran gewöhnt: Die ordentlich geschnittenen Hecken, der kurz geschorene Rasen, die saubere Straße davor, der – ja – langweilige Duft und vor allem die Stille. In Bangkok hatte es immer Geräusche gegeben, Hupen, Gelächter, Schreie, Motoren. Es hatte nach Gewürzen gerochen, nach Essen, nach Benzin, nach Menschen – nach Leben. Irritiert sah er auf der großen, goldgefassten Uhr der Eingangshalle, dass es erst halb neun war. Er hatte keine Lust mehr gehabt, in der Stadt herumzuhängen. Diese Ami wurde ihm langsam zu aufdringlich. Jetzt war sie sogar im Pinguin aufgetaucht, wo er nur in Ruhe hatte ein Bier trinken
Weitere Kostenlose Bücher