Frostherz
hochzuschieben, aber das ging natürlich nicht. »Anne«, flüsterte er lauter. Keine Reaktion. Als sich nach zehn Minuten immer noch nichts tat, trat er den Rückzug an. Hatte sie doch Schiss bekommen! Irgendwie überraschte ihn das nicht einmal. Mal sehen, ob sie morgen in der Schule etwas dazu sagen würde. Manchmal war sie verschlossen wie eine Auster – und es reizte ihn, ihre Schale zu knacken. Ob er eine Perle finden würde, dessen war er noch nicht so sicher. Aber wer nicht einmal danach suchte, der fand auch keine.
Um zehn nach fünf fuhr sie aus dem Bett hoch. Scheiße, wie spät war es? Anne saß kerzengerade und hellwach da, erkannte, dass die ersten Sonnenstrahlen durch die kleinen Ritzen im Rollladen hereinschienen. Verflucht! Sie sprang auf und zog den Rollladen hastig hoch. Als erwarte sie, dass Cornelius davorstehen würde. Mist, Mist, Mist, hämmerte es in ihrem Kopf. Sie war einfach nicht aufgewacht. Sie war wie immer um zehn zu Bett gegangen und hatte sich den Wecker auf viertel nach elf gestellt. Dann hatte sie sich hingelegt, eigentlich in der Erwartung, sowieso nicht einzuschlafen vor lauter Aufregung. Aber anscheinend war ihre Müdigkeit deutlich größer gewesen, als sie gedacht hatte. Hoffentlich war Cornelius nicht sauer auf sie. Mit kalten Füßen ging sie ins Bad. An Schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Sie duschte ausgiebig und deckte dann den Frühstückstisch. Wieso war sie so schnell eingeschlafen? Weil sie immer schnell einschlief vermutlich. Nicht mal, wenn am nächsten Tag eine Schulaufgabe anstand, hatte sie Probleme. Na ja, sie beherrschte den Stoff ja sowieso meistens im Schlaf.
Um halb sieben, als Johann mit grauem Gesicht in die Küche kam, hatte sie bereits die gesamte Zeitung durchgelesen. Wie immer war er schweigsam, trank nur an der Spüle lehnend seinen Kaffee und sah auf den Fliesenboden.
»Was wird jetzt eigentlich mit Omas Haus?«, fragte Anne entgegen der sonst herrschenden Konvention morgendlichen Schweigens. Johann sah kaum auf.
»Mal sehen.«
»Aber Papa«, hub Anne an. »Wenn wir es einfach leerstehen lassen, ist das doch blöd…«
»Das lass mal meine Sorge sein.«
»Und hat sich Herr Rosen noch mal gemeldet? Will er es nicht vielleicht wirklich kaufen? Vielleicht sollten wir einen Makler engagieren!«
»Nein, Rosen hat sich nicht gemeldet. Ich glaube, der Preis hat ihn abgeschreckt.«
»Ist es denn überhaupt so viel wert? Du könntest es doch ein bisschen billiger verkaufen. Ich fände es schön, wenn da jemand drin wohnen würde, den wir kennen.«
»Ach, Schatz.« Johanns Blick verriet nichts als Müdigkeit. »Es ist noch so früh. Deine Großmutter hätte sicher gewollt, dass wir das Haus behalten.«
»Dann können wir es doch wenigstens vermieten. Und außerdem…« Sie brach ab. Das brachte sie dann doch nicht über die Lippen: Außerdem war es dir doch schon immer egal, was Oma gewollt hat.
»Was war los?«, empfing sie Cornelius in der großen Pause. Davor hatten sie noch keinen Kurs zusammen gehabt. »Verschlafen?«
Anne sah ihn sehr schuldbewusst an. Immerhin lächelte er jetzt leicht.
»Warst du ohne mich unterwegs?«, wollte sie wissen. Er verneinte. »Ich habe mich hingelegt, bin eingeschlafen und einfach nicht wieder aufgewacht«, erklärte Anne.
»Boah, ich hab geklopft und gerüttelt, nichts tat sich!«
»Tut mir leid. Heute Abend?«
Cornelius presste kurz die Lippen aufeinander. Er lehnte sich an das Mäuerchen, das das Schulgelände vom Garten trennte. »Nur, wenn du nicht wieder ein Schlafmittel nimmst!« Er grinste.
»Ich nehme kein Schlafmittel«, sagte Anne empört.
Cornelius blickte sie forschend an. »Na, mal im Ernst – bist du sicher, dass dir dein Vater keine Schlaftablette ins Essen schmuggelt? Würde ich dem glatt zutrauen.«
»Nein.« Wirklich nicht? »Ich nehme abends nur meine Vitamintabletten. So Nahrungsergänzungsmittel, damit ich gesund bleibe.«
Cornelius kickte einen kleinen Stein fort. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sein Blick wurde immer finsterer.
»Vitamintabletten? So Beutelchen? Oder zum Auflösen? Oder zum Schlucken?«
»Eine im Beutelchen, eine trink ich im Wasser aufgelöst und zwei sind zum Schlucken.«
»Vier Stück? Mann, Mann, Mann – wozu soll das denn gut sein? Weiß doch inzwischen jeder, dass das Zeug nur Geldmacherei ist.«
»Aber Doktor Weiß, unser Hausarzt, sagt, gerade im Wachstum…«
»Ey, du bist 17! Kein Kleinkind.« Anne wandte sich ab. Warum musste
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