Frostherz
Ein einziges Desaster, heulende Kinder und schreiende Erwachsene.
Oder Katrin, eine Kindergärtnerin, die meinte, Anne wäre das beste Versuchsobjekt für ihre pädagogischen Ambitionen. Obwohl sie da schon 12 gewesen war.
Gefolgt war Manuela, Kosmetikerin, deren Ehrgeiz darin bestand, Anne mittels groß angelegter Shoppingtouren für sich zu gewinnen, und die ständig mit Johann über Konsumverhalten stritt.
Anne hatte den Eindruck, es war egal, wen Johann anschleppte – es war immer die Falsche. Und Anne hatte auch eine eigene Theorie, wieso: Selbst ihr war klar, dass ihr Vater gut aussehend war und charmant sein konnte. Dass er mit Haus und Mercedes und seiner Kanzlei etwas hermachte. Und dann umwehte ihn, den alleinerziehenden Witwer, meist ein Hauch von Melancholie – und es gab unzählige Frauen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, diese Männer zu retten und sie zu glücklichen Menschen zu machen. Die ersten paar Wochen, manchmal sogar einige Monate, gelang ihnen das auch. Aber irgendwann war der Punkt erreicht, an dem Johann wieder in eine bleischwere Melancholie verfiel und dann nicht mehr anziehend mysteriös erschien, sondern nur noch wie ein Waschlappen. Und außerdem nervte die Frauen sein Kontrollwahn, den er – natürlich aus Sorge – nicht nur Anne, sondern auch ihnen zuteilwerden ließ. Ständig telefonierte er ihnen hinterher, angeblich um zu hören, ob es ihnen gut ging. Einen klammernden Jammerlappen zu versorgen, war den meisten Frauen auf Dauer dann doch zu blöd, und sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Immerhin hatte er in den wenigen Wochen oder Monaten mit seinen neuen Beziehungen Annes Überwachung stets ein wenig gelockert. Und sich später deswegen um so mehr Vorwürfe gemacht – und sie intensiver bewacht als vorher.
Samstag, 05.06.
Unwiderstehlich, wie sie dort warten. Alle meine Freunde, aufgereiht, in greifbarer Nähe und beinah unerschöpflich ihre Zahl. Sie heißen Apfelkorn und Ouzo, Johnny Walker und Lambrusco und mit ihnen feier ich die schönsten Feste. Unvergesslich, weil ich sofort alles vergesse, wenn ich sie umgreife und sie aussauge bis auf den letzten Tropfen, ihnen fast die schönen, schlanken Hälse umdrehe, damit sie sich ganz verschwenden an mich. Und wieder hat die Mutter, die meine, nichts gesagt, dass ihr Geld fehlt im Portemonnaie, und wieder hat der Vater nichts gesagt, als er mich abholt aus dem Krankenhaus. Wie gerne hätte ich ihm den Gang erspart, aber wieder hat es nicht gereicht für die Bahre. Immer lande ich nur auf der Trage und in den weißen Betten. Und wenn sich mein Magen anfühlt wie angefüllt von ungeschälten Kastanien, dann gibt es den einen Moment, in dem ich schwöre, dass ab nun alles anders wird. Aber dann kommen die Bilder wieder und ich weiß jetzt schon, dass ich meine Freunde brauche, um die Bilder zu zerschießen. Ich will keine Mädchen im Dreck liegen sehen, weil ich sie dorthin gestoßen habe. Ich will nicht die Augen der Mutter sehen, bevor sie sich abwendet, weil ihre Worte keinen Zugang finden in mein Gehirn. Und ich will nicht den gekrümmten Rücken meines Bruders sehen, der sich wegduckt vor dem Leben. Vor allem will ich ihn nicht sehen, den Teufel in Menschengestalt. Dank meiner Freunde kann ich die Augen verschließen, das zumindest. Denn ich feiges Stück Dreck schaffe es nicht, meine Freunde zu bitten, mich auszusaugen, bis kein Fünkchen Leben mehr in mir ist. Vielleicht will ich sie einfach nicht verlieren, meine Freunde, die zu mir halten in jeder Lebenslage. In jeder Untergangslage.
8. Kapitel
Das Schweigen am Frühstückstisch war am nächsten Morgen mit einer zusätzlichen Prise Unsicherheit gewürzt. Anne traute sich nicht, ihren Vater nach dem Gespräch mit der Maklerin zu fragen. Aber sie spürte auch, dass er besonders vorsichtig mit ihr umging. Als wolle er um alles in der Welt vermeiden, dass sie das Zimmer noch einmal erwähnte. Sie umkreisten einander wortlos, jedes Geräusch vermeidend. Die Stille war so angespannt, als könne ihr hoher Ton Gläser zum Zerspringen bringen.
Anne war froh, als sie endlich gehen konnte. Heute war sie besonders früh an der Bushaltestelle. Es versprach ein sonniger Tag zu werden, aber das heiterte sie kaum auf. Sie fühlte sich, als müsse sie ihre Haut abstreifen, um endlich ein neues Leben anfangen zu können.
Kurz vor dem Bus knatterte ein Motorrad heran und hielt direkt vor ihr. Der Motorradfahrer deutete mit seinem behandschuhten Finger auf
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