Frostherz
sie und dumpf drang es unter seinem Helm hervor, als er sagte: »Steig auf.«
Anne brauchte einige Augenblicke, um Cornelius zu erkennen. Endlich nahm er den Helm ab und grinste breit.
»Cooler Schlitten, oder? Dein persönlicher Abholservice.« Er streckte ihr einen zweiten Helm entgegen. Anne sah sich besorgt um. Sie konnte doch nicht auf einem Motorrad mitfahren! Das war viel zu gefä...
»Okay«, unterbrach sie diesen Gedanken, der nicht aus ihrem Herzen kam, sondern der ihr eingeimpft worden war und den sie zum Schweigen bringen wollte. Und konnte. Sie setzte sich den engen Helm auf und brauchte ein paar Sekunden, bis sie die beste Art, auf ein Motorrad aufzusteigen, herausgefunden hatte.
»Festhalten«, sagte Cornelius und Anne wurde mit einem Mal klar, wie gerne sie seiner Aufforderung folgte. Sie schob ihre Arme unter seinen hindurch und legte ihre Hände auf das weiche Leder seiner Jacke. Er ließ den Motor aufheulen, und gerade als der Bus hinter ihnen hupte, brauste er los. Anne spürte den Fahrtwind im Gesicht, die Morgensonne, sie hielt ihn entspannt fest, ganz dem Gefühl folgend, dass sie ihm vertrauen konnte. Sie wiegte sich in den Kurven, nahm seinen Rhythmus auf, hätte so bis ans Ende der Welt fahren können. Nicht eine Sekunde hatte sie Angst.
Als sie an der Schule hielten und sie den Helm abnahm, sah Cornelius sie forschend an.
»Hey, ich wusste gar nicht, dass du eine geborene Motorradbraut bist. Du sitzt da hinten drauf, als würdest du das schon dein Leben lang machen.«
Anne lief rot an, ganz schnell. »Das war einfach… geil!« Sie grinste. »Danke!«
»Gerne wieder.«
Sie machte schon den Mund auf, aber er unterbrach sie.
»Ja, ich passe auf, dass dein Vater uns nicht sieht. Morgen treffen wir uns unten an der Kreuzung. In sicherer Entfernung. Und Taxiservice nach Hause kannst du natürlich auch gerne in Anspruch nehmen. Das Monster ist froh, wenn es was zu tun hat.«
Die ersten drei Schulstunden hindurch ertappte sich Anne immer wieder, wie sie vor sich hin lächelte. Sie wusste gar nicht, was das Schönste gewesen war. Der Wind und das Gefühl von Freiheit, ihr Körper so dicht an seinem. Oder das Bewusstsein, etwas völlig Verbotenes ohne das leiseste Gefühl von Reue getan zu haben. Entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten folgte sie dem Unterricht kaum und kritzelte gedankenverloren vor sich hin.
»Was ist also das charakteristische Merkmal dieses Kunstliedes, Anne?«, ließ von Derking sie hochfahren. Eigentlich hätte die Beantwortung der Frage ein Leichtes für sie sein müssen – sang sie doch im Chor gerade ein Kunstlied von Reger. Dennoch begann sie zu stottern. Wie war die Frage?
»Äh, das Kunstlied ist, äh,…«
In diesem Moment ging die Tür auf und Anne lehnte sich erleichtert zurück. Gerade noch mal davongekommen. Mit besorgtem Blick kam Meyer-Schönfeld, der Rektor der Schule, herein und entschuldigte sich für die Unterbrechung. Er schaute ein wenig suchend umher, dann blieb sein Blick an Anne hängen.
»Anne, kommst du bitte mal«, sagte er und ihre Arme überzogen sich mit einer Gänsehaut. Sie stand auf, alle blickten neugierig auf sie.
Ob etwas geschehen war? Mit ihrem Vater? Oder…?
»Ich bringe sie Ihnen nachher zurück«, verabschiedete sich Meyer-Schönfeld vom Kollegen und Anne konnte sich vorstellen, welches Getuschel im Klassenraum jetzt losging.
Der Rektor sagte kein Wort, während sie die stillen Gänge durchschritten. Ihr war eiskalt, das wohlige Gefühl des Morgens komplett verschwunden. Einen Gruß nickend durchquerte sie das Vorzimmer der Sekretärin und erspähte durch die halb offene Tür neben dem Schreibtisch von Meyer-Schönfeld einen schlanken Mann in Jeans und dunkelblau-weinrot gestreiftem Hemd, der mit zusammengekniffenen Lippen aus dem Fenster sah. Brunner.
»Guten Morgen«, wisperte Anne und hielt den Kopf gesenkt, als erwarte sie Schläge. Erst jetzt entdeckte sie Cornelius, der auf einem der Besucherstühle gleich neben der Tür saß. Auch in seinen Augen war das Leuchten erloschen.
Als alle saßen, sah Meyer-Schönfeld kopfschüttelnd zwischen Anne und Cornelius hin und her.
»Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht?«, fragte er und es klang eher enttäuscht als wütend.
»Wobei?«, fragte Cornelius zurück. Anne zuckte zusammen. Der traute sich was.
Bevor Meyer-Schönfeld etwas erwidern konnte, ging die Tür noch einmal auf und Rosen kam herein. »Entschuldigen Sie die Verspätung, ich musste meine Klasse erst
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