Frostherz
aber grob und demütigend war. Seit sie in Deutschland waren, hatte sich dieses Verhalten noch verstärkt. Der honorige Lateinlehrer, der ehrwürdige Herr Konrektor – Cornelius konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. Doch rasch schob er die Gedanken beiseite und verließ das Haus – vorfreudig sogar. Vor dem Termin hatte er noch etwas Wichtiges zu erledigen. Etwas, das er noch niemandem verraten hatte, nicht einmal Anne.
Als Cornelius vor knapp zwei Jahren mit seinen Eltern in das Haus seiner verstorbenen Tante, der Schwester seiner Mutter, gezogen war, hatte er im Schuppen hinter dem Haus ein altes Motorrad entdeckt. Eine Ducati Monster, grellrot, Baujahr 1994. Und sie sah so aus, als ob sie bereits seit 1995 nicht mehr gefahren worden sei. Verstaubt und verdreckt war sie gewesen, einen kleinen Unfall schien sie gehabt zu haben, aber der Kilometerstand war lächerlich, gerade mal knapp über 9000 Kilometer. Ein Auto hätte ihm sein Vater wegen der Kosten nicht genehmigt, das wusste er. Aber gegen ein Motorrad, das Cornelius selbst finanzierte, würde er nichts sagen. Allerdings hatte die Vorführung bei einer Werkstatt ergeben, dass Cornelius knapp 1000 Euro in eine Reparatur und Überholung der Maschine stecken müsste. Jetzt endlich hatte er das Geld zusammen, vor allem durch den Verkauf von selbst gestalteten T-Shirts, die er über das Internet vertickte. Und heute also würde er die Ducati endlich aus der Werkstatt abholen können. Wie schnell könnte er in Zukunft zu Anne den Berg raufheizen, um sich auf ihren Rasen zu fläzen. Grotesk irgendwie. Aber auch… spannend.
Die Ducati – das Monster, wie er sie sofort taufte – sah umwerfend aus. Das Rot glänzte und strahlte mit den silbernen Auspuffrohren um die Wette, der bullige Tank zwischen Sitz und Lenker gab ihr etwas vertrauenerweckend Stabiles und ihr schon leicht altmodischer Schick hatte genau die Portion Extravaganz, die er schätzte. Er kam sich jetzt schon vor wie James Hurley – jener ultracoole Twin-Peaks -Bewohner, den man selten ohne seine Harley Heritage sah.
Die ersten Kilometer fühlte er sich noch ein wenig unsicher, aber als er in die Gartenstraße einbog, hatte er das Monster gezähmt. Es gehorchte ihm aufs Wort. Mit zufriedenem Grinsen stellte er den saftig knatternden Motor ab. Wie großartig wäre es, Anne nachher einfach auf eine Spritztour mitzunehmen.
Als er das düstere Haus der Großmutter sah, zog sich sein Magen jedoch zusammen. Es wurde Zeit, dass Anne endlich aus ihrem Gefängnis ausbrach.
»Entschuldigung«, hörte er die Stimme einer Frau hinter sich. »Ich suche die Gartenstraße 17, das ist doch hier, oder?«
»Frau Jung?« Cornelius schaltete sofort. »Mein Vater hat vorhin mit Ihnen telefoniert, nicht wahr? Es ging um das Haus. Leider ist ihm noch ein Termin mit einer eigenen Mandantin dazwischengekommen. Aber er meinte, ich könne Ihnen ja schon mal alles zeigen.«
Sie akzeptierte bereitwillig und folgte ihm die Einfahrt entlang. Beim Aufsperren warf Cornelius der Frau mit den langen, glatten blonden Haaren immer wieder einen neugierigen Blick zu. Bildete er sich das ein oder sah sie Anne tatsächlich ein wenig ähnlich? Nicht nur die Haare, auch die hellblauen, großen Augen und die schmale Nase erinnerten ihn an das Mädchen, auch wenn Marita Jung sicher schon Anfang 30 war.
Ihm fiel auf, wie muffig es im Haus roch, aber die Maklerin schien das nicht zu stören. Sie war sicher Schlimmeres gewohnt. Ohne zu zögern, führte er sie herum, pries das Haus, als sei er mit all seinen Besonderheiten bestens vertraut. Marita Jung schien angetan zu sein von dem, was sie da sah.
Den Keller betrat er nur kurz mit ihr, konnte es sich aber nicht verkneifen, die Tür zu dem Zimmer immer wieder zu fixieren. Wie gerne hätte er den Raum dahinter angeschaut. Aber jetzt war dafür nicht der richtige Augenblick. Was wohl Johann Jänisch dazu sagen würde, wenn Anne und er das Zimmer einfach leer räumen würden?
»...bleibt denn jetzt Ihr Vater?«, riss ihn die Maklerin aus seinen Gedanken.
Cornelius fummelte das Handy aus seiner Jacketttasche und tat, als lese er eine SMS. »Er hat mir geschrieben, dass er es nicht hierher schafft und ich Sie, wenn Sie möchten, zu uns nach Hause bringen soll. Wäre das okay für Sie?«
Frau Jung nickte und spitzte zustimmend ihren kleinen Mund.
»Dann fahre ich voraus«, schlug Cornelius vor. »Es ist nicht weit.«
Beinahe wäre er eine Straße zu früh abgebogen,
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