Frostherz
sie.
»Ich habe dich krank gemeldet. Nach dem Schreck gestern, dachten wir, ist es das Beste, wenn du dich richtig ausschläfst. Wir müssen heute sowieso noch bei der Polizei vorbei. Du musst deine Aussage unterschreiben.«
Marita zauberte ihr Kornblumensommer-Lächeln ins Gesicht, aber Anne brachte nicht die Kraft auf, es zu erwidern. Sie setzte sich hin, starrte auf den gedeckten Frühstückstisch. Der Anblick der gepellten und halb gegessenen Eier spülte ein Gefühl von Ekel in ihre Kehle.
»Ich wollte dir noch sagen«, hob Marita an. »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe genau gesehen, dass diese Ami dich zuerst geschubst hat. Dass du ihr anschließend helfen wolltest.«
»Hat Brunner das auch gesehen?«
»Brunner?«, schaltete sich Johann ein. Marita warf ihm einen unsicheren Blick zu. »Was wollte Brunner dort? Ich hab ihn gar nicht gesehen.« Marita legte ihre Hand auf Johanns Unterarm, zupfte an den dunklen Härchen.
»Er hat mir aufgelauert nach dem Konzert. Wollte mit mir reden. Deswegen haben sich Anne und ich ja auch aus den Augen verloren. Ich habe ihn fortgeschickt.«
»Er wollte dich schlagen.« Der Wunsch, alles auszusprechen, nie mehr etwas zu verschweigen, war übermächtig in ihr. Wie ein Vulkan spie sie die Worte hervor.
»Marita, warum hast du mir das nicht gesagt?«, fragte Johann empört.
»Ich wollte dich nicht beunruhigen. Es war ja auch nichts weiter. Als er den Unfall sah, ist er abgehauen.«
»Wir sollten ihn anzeigen. Er sollte sich dir nicht mehr nähern dürfen.«
»Johann, bitte«, sagte sie sanft. »Ich hab das im Griff. Jetzt geht es doch erst einmal um Anne.« Johann drehte den Frühstücksteller mit den Fingerspitzen im Kreis herum. Rote Flecken liefen ihm über Hals und Gesicht.
»Wisst ihr etwas, wie es Ami geht?«, fragte Anne.
»Das ist doch jetzt egal«, sagte Johann knapp.
»Nein, mir ist das nicht egal«, schrie Anne. »Ich bin schuld, dass sie auf die Straße geflogen ist. Ich hab sie geschubst!«
»Sie hat dich angegriffen. Du hast dich nur gewehrt. Und wenn dieser Motorradfahrer einfach ausgewichen wäre, wäre ja auch nichts passiert«, sagte Marita und ihre Stimme hatte alle Sanftheit verloren. »Ich verstehe das einfach nicht – der hat voll auf euch zugehalten. Hat nicht mal versucht zu bremsen. Und dann ist er davongefahren, ohne sich noch einmal umzuschauen.«
»Du meinst, das war Absicht?« Johanns rote Flecken wichen einer aschfahlen Blässe.
Marita nickte. »Für mich sah das ganz danach aus.«
»Hast du das Motorrad erkennen können? Ein rotes vielleicht? Ich wette, da steckt dieser Cornelius dahinter!«
»Papa!«, entfuhr es Anne. »Warum sollte er denn so etwas tun?«
»Im Drogenrausch!«
Anne sprang auf und rannte aus dem Zimmer.
»Anne«, rief er ihr nach, aber sie warf ihre Tür so laut zu, dass er es garantiert nicht wagen würde, ihr zu folgen.
Sie musste zu ihm. Sie musste ihn finden. Diese Ungewissheit hielt sie einfach nicht mehr aus. Sie würde einfach gehen. Sollte Johann doch toben und im Quadrat springen. Sie war nicht mehr das brave Lämmchen. Sie würde ihn jetzt suchen und finden. Und ihn zur Rede stellen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er tatsächlich der Motorradfahrer gewesen war. Und doch war sie sich sicher, dass sie seine Maschine gesehen hatte. Und wenn er sie und sich selbst von Ami hatte befreien wollen? Nein, dieser Gedanke war unglaublich! So war er nicht! Aber – kannte sie ihn wirklich? Ihr Blick fiel auf die Chronik, die auf ihrem Nachttisch lag. Natürlich – vielleicht war er im Haus ihrer Großmutter. Sie hatte doch gestern das Motorrad von dort wegfahren sehen, vielleicht hatte er sich tatsächlich dort versteckt, und als er sie alle hatte kommen hören, war er schnell verschwunden. Das hieße aber auch: Er wollte sie nach wie vor nicht sehen. Egal, sie würde ihn zwingen.
Sie steckte ihr Handy ein, das trotz des Sturzes gestern noch funktionierte, und etwas Geld. Im Flur bemühte sie sich nicht sehr darum, leise zu sein. Sie nahm eine dünne Jacke von der Garderobe, ihren und den Schlüssel zum Haus der Großmutter. Marita und Johann unterhielten sich im Wohnzimmer. Sie schienen sie nicht zu bemerken. Nicht einmal das quietschende Garagentor ließ sie zögern. Sie zog Johanns altes Fahrrad vor, glücklicherweise hatte es keinen Platten, schloss die Garage und stieg auf. Als das Fahrrad schon bergab rollte, hatte sie den Eindruck, Johanns erschrockenes Gesicht hinter der
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