Frostherz
Warum.
Sie begann wieder zu zittern und schloss das Fenster, ließ den Rollladen leise herunter. Als sie zurück zum Bett ging, fiel ihr das Buch auf, dessen heller Rücken ihr unter dem Bettgestell hervor entgegenstrahlte. Sie hatte es dorthin gelegt, beinahe versteckt. Sie hatte verhindern wollen, dass ihr Vater es sah. Warum, wusste sie auch nicht so genau. Sie hob es auf und kuschelte sich damit ins Bett. Vielleicht würde es sie etwas ablenken. Sie blätterte gleich zu den Passagen über die 80er-Jahre. Ein gewisser Rudolf Koth war von 1975 bis 1983 Chorleiter gewesen. Auf den Fotos war ein schmaler, schlanker Mann mit einer lächerlichen Vokuhila-Frisur, vorne kurz, hinten lang, und einer viel zu großen, dunkel getönten Brille zu sehen. Hatte sie ihn schon mal irgendwo gesehen? Er erinnerte sie an jemand. Wenn sie nur wüsste, an wen. Schade, dass sie die Augenpartie hinter der Brille nicht genauer sehen konnte. Stolz hatte er die Arme um seine Schützlinge gelegt. Keine Frage – der kleinste, ganz rechts außen, das musste Johann sein. Zehn, elf Jahre war er auf dem Foto wohl alt. Aber welcher von den ungefähr 40 Jungen war Andreas? Keiner sah Johann besonders ähnlich. Der mit den langen Haaren, von dem man kaum etwas sah? Der zierliche, der so ein grimmiges Gesicht zog? Oder der selbstbewusst lächelnde im Batik-T-Shirt?
Anne las, dass der Chor in dieser Zeit viel im europäischen Ausland unterwegs gewesen war, in Frankreich, England, sogar in Griechenland. Manchmal hatten die Chorknaben dafür extra schulfrei bekommen. Auch waren sie zu Chorwochenenden gefahren, zum intensiven Üben und zur Teilnahme an Wettbewerben. Mehrmals hatten sie beim Leistungssingen den Titel »Meisterchor« errungen, 1979 waren sie Sieger des Landeschorwettbewerbes geworden. In dieser Zeit, berichtete die Chronik, war Vera Rosen Korrepetitorin des Chores gewesen. Ob das Cornelius’ Mutter war? Auf einem der Fotos konnte sie die Klavierspielerin entdecken. Aber da sie ihr nie begegnet war, wusste sie nicht, wie sie aussah. Vera Rosen musste inzwischen Mitte, Ende 50 sein, rechnete Anne nach. Auf einem anderen Bild erkannte sie einen jungen Mann mit wirrem Haar und spitzer Nase. Auch der Kragen eines Trachtenhemdes ließ sie ihn eindeutig als von Derking identifizieren. Er musste damals noch Student oder so etwas gewesen sein, überlegte sie. Wie jung er gewesen war! Die Bildunterschrift wies ihn jedenfalls als Assistenten des Chorleiters aus.
Sie spürte plötzlich, wie ihr beim Lesen nun doch immer wieder die Augen zufielen und so legte sie das Buch weg, löschte das Licht und schlief endlich ein.
Sonntag, 13.06.
Trost kann ich euch nicht geben, aber Trost ist vermutlich auch nicht das, was ihr braucht. Denn es wird heller werden um eure Herzen, wenn ich erst fort bin. Die Welt ist kein Platz für mich mehr, die Welt hat keinen Platz für mich mehr. Dort, wo ich hingehe, gibt es Platz ohne Ende. Dort, wo das Ende wartet, gibt es kein Ende und keinen Anfang. Ich stelle mir einen hellen, lichten Raum vor ohne Leid. Voller Freiheit. Ohne Scham. Voller Leichtigkeit. Ohne Schuld. Voller Geborgenheit. Ich habe keine Angst. Angst hätte ich weiterzuleben. Aber das muss ich ja nicht. Das ist meine Wahl. Meine Entscheidung. Ich kann allein bestimmen. Das Eis taut und gibt mein Herz frei, es öffnet sich vor Freude, denn ich werde wie ein Vogel fliegen, hinab ins Tal, um dann aufzusteigen in die unendlichen Weiten des Himmels. Für immer. Also seid auch ihr nicht bang.
13. Kapitel
Um kurz vor halb acht waren sie gekommen. Sie hatten ihn sprechen wollen, bevor er zur Schule aufbrach. Dafür, dass er nun mit Sicherheit die erste Stunde versäumte, hatte er diesmal eine richtig gute Entschuldigung, überlegte Cornelius bitter. Eine verdammt gute, von der er allerdings nicht sicher war, ob er sie in der Schule anführen sollte. Vor Brunner noch dazu! Sein Vater war schon fort und Cornelius blieb nichts, als die beiden Beamten hereinzubitten. Die Kommissarin, oder was immer sie war, stellte sich als Kerstin Fehlmayer vor, den Namen ihres sehr viel jüngeren Kollegen verstand er nicht. Aber er schwieg sowieso die meiste Zeit.
»Wo waren Sie gestern Abend zwischen 22.00 und 23.00 Uhr?«, fragte Kerstin Fehlmayer, nachdem sie ihm erklärt hatte, dass dies eine rein informatorische Befragung und was am Vorabend geschehen war. Ein Unfall mit Fahrerflucht. Ein schwer verletztes Mädchen und Zeugen, die ein Motorrad mit ungebremster
Weitere Kostenlose Bücher