Frostherz
haben!«
»Aber kannst du es auch beweisen? In dubio pro reo, das weißt du doch, liebe Anne. Außerdem ist das alles verjährt. Dafür bringt mich niemand mehr in den Knast.« Er schubste sie auf den Küchenstuhl nieder und beugte sich zu ihr.
»Aber ich muss auch an meine Reputation denken. Meine Stellung, meine Familie. Das kann ich nicht aufs Spiel setzen. Wenn du mir das Buch gibst, dann könnte ich mir vorstellen, dass ich dich laufen lasse. Denn wer glaubt schon einer kleinen, schüchternen Schülerin, die vom Leben keine Ahnung hat – noch dazu Dinge, die vor 30 Jahren geschehen sind, lange vor ihrer Geburt. Wenn ich das Buch allerdings nicht bekomme, dann müsste ich leider dafür sorgen, dass du keine Gelegenheit hast, meine Geheimnisse zu beweisen!«
Er legte die Hände auf ihre Schultern und begann mit massierenden Bewegungen. Anne wollte ihn abschütteln, sich wegducken, fortwinden, aber er verstärkte den Druck so, dass es schmerzte.
»Lassen Sie mich!«, rief sie. »Ich habe das Buch nicht, ich weiß nicht, wo es ist, ich habe es nie gesehen.«
»Du störrisches Zicklein«, sagte er in schäkerndem Ton. »Na ja, dann bitte ich dich jetzt, einen kleinen Brief für mich aufzusetzen.« Er legte ein Blatt Papier und einen Stift vor sie auf den Tisch. Beides hatte er aus seiner Jacketttasche gezogen. Dann packte er sie wieder bei den Schultern.
»Schreib«, sagte er eiskalt und drückte sie nach unten. Anne verschwamm das Blatt vor den Augen, sie konnte den Stift kaum halten.
»Lieber Papa«, diktierte der Lehrer, als handele es sich um eine Schulaufgabe der zweiten Klasse. »Bitte, verzeih mir. Ich habe keinen Ausweg mehr gesehen.« Er umkrallte ihre Schultern wie eine Schraubzwinge. »Schneller«, presste er hervor, beugte sich zu ihr und sie wich vor seinem widerlichen Mundgeruch zurück. »Das muss schneller gehen. Also, weiter: Meine Liebe zu Cornelius ist so groß, aber er erwidert sie nicht. Deshalb will ich sterben. Verzeih mir. Du warst ein guter Vater, aber ich kann so nicht mehr leben. Lieber bin ich bei Mama im Himmel, als weiter so zu leben.«
Anne konnte das Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Tränen tropften auf das Papier.
»Das schreib ich nicht!« Sie schüttelte den Kopf, schneller und immer schneller.
»Du blöde Kuh«, schrie Rosen und hieb ihr in die Seite. Sie zuckte stöhnend zusammen. »Los, ein Satz noch, damit du siehst, dass ich es gut mit dir meine. Schreib: ›Dort wo Andreas den Tod fand, dort will auch ich sterben.‹ Dann muss er nicht so lange nach deiner Leiche suchen.«
Anne weinte jetzt ungehemmt. Vielleicht hörte sie deshalb die Tür nicht. Erst als der Druck auf ihre Schultern abnahm, sah sie auf.
»Was willst du hier?«, hörte sie Rosen schreien und dann entdeckte sie Cornelius in der Tür stehend. Bleich war er, dunkle Ringe unter den Augen, er starrte sie an.
»Anne…«, stammelte er fast tonlos. »Es tut mir so leid…«
Was? Was? Annes Puls beschleunigte sich noch mehr. Was tat ihm leid? Warum sah er sie nur so an? Hielt er zu seinem Vater? Wollte er sie ihrem Schicksal überlassen? Ergriff er tatsächlich Partei für diesen Widerling?
»Keine Sentimentalitäten hier«, sagte Rosen und ließ Anne los. Sie hatte keine Kraft aufzustehen. »Ich hoffe, du weißt, auf welcher Seite du stehst.« Es sah absurd aus, wie der kleine Mann versuchte, seinen ihn um mehr als eine Kopflänge überragenden Sohn in Schach zu halten. Aber dann wurde Anne klar, dass er gar nicht viel Kraft brauchte. Cornelius ließ die Schultern hängen und verschränkte die Arme auf dem Rücken.
»Ja, Papa«, sagte er. »Natürlich.«
»Weißt du, ob sie das Buch hat?« Cornelius schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein, konnte das heißen, ich weiß es nicht oder nein, sie hat es nicht. Anne versuchte, Cornelius’ Blick einzufangen, aber es gelang ihr nicht.
»Wir müssen sie aus dem Weg räumen. So oder so! Sie weiß viel zu viel. Und dir ist klar, was wir verlieren, wenn diese alten Geschichten herauskommen.« Jetzt nickte Cornelius, hielt aber weiter den Blick gesenkt.
»Los, wir bringen sie zum Auto. Du nimmst sie.« Mit wenigen Schritten war Rosen an den Küchenschränken, riss ein paar Schubladen auf und entnahm schließlich einer ein langes, scharfes Küchenmesser. »Damit sie uns nicht herumzickt«, sagte er und bedeutete ihr aufzustehen. »Vielleicht nimmt sie ja auch noch Vernunft an und sagt uns, wo das Buch ist.«
Cornelius’ Hände schlossen sich um ihre
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