Frostherz
Handgelenke. Wie eiserne Krallen. Das konnte doch nicht wahr sein! Das musste ein Albtraum sein!
»Papa«, wisperte sie vor sich hin. »Papa…« Mehr Worte kamen einfach nicht.
Während sie zum Auto gingen, legte Cornelius einen Arm um ihre Schulter, mit der freien Hand hielt er sie zusätzlich fest. Er schaffte es sogar zu lächeln, während sie zu Boden blickte. Keiner würde einen Verdacht schöpfen, der sie so sah. Ein Typ und seine Freundin. Harmonisch vereint mit dem Schwiegervater in spe.
Cornelius setzte sich dicht neben sie nach hinten in den weißen Audi. Rosen startete den Wagen und mit quietschenden Reifen raste er los. Anne war kotzübel. Sie bat leise, das Fenster ein wenig zu öffnen. Cornelius tat es. Mit der Luft wehten ein paar Regentropfen herein, draußen wurde es mit einem Mal dämmrig, der Himmel sah nach Weltuntergang aus.
Keiner sprach ein Wort. Nach dem Blitzstart riss sich Rosen nun zusammen. Ihm war wohl klar geworden, dass er nicht so fahren sollte, dass ihn die Polizei gleich anhielt.
Schnell ließen sie die Stadt hinter sich. Anne machte sich im Sitz so klein es ging. Noch immer umfasste Cornelius ihre Hände. Bildete sie sich das nur ein oder streichelte er mit dem kleinen Finger über ihre Hand? Sie sah ihm ins Gesicht. Eine dunkle Strähne hing vor seinen Augen. Sein Mund war eine schmale Linie, der Blick stur geradeaus gerichtet. Zitterte sein Oberschenkel?
»Hilf mir«, flüsterte sie so leise wie möglich. Er reagierte nicht. Oder hatte er sie nicht gehört?
Sie fuhren auf die Autobahn auf. Wo wollten sie nur hin mit ihr? Würden sie sie wirklich umbringen? Nein, diesen Gedanken musste sie schnell vertreiben. Das war surreal, das war schlichtweg unmöglich! Sie sah den Griff des Messers auf dem Beifahrersitz vor sich liegen. Ein Messer. Ob sie es irgendwie in ihren Besitz bringen könnte? Doch wenn Cornelius sie weiter so festhielt, hatte sie keine Chance. Wo brachten sie sie bloß hin? Was hatte sie schreiben müssen… dort, wo Andreas den Tod gefunden hatte? Wo war das gewesen? Hat Hedi davon geredet? Er hatte sich nicht mit Schlaftabletten oder so etwas das Leben genommen. Sich nicht erhängt. Er war… ein weiterer Schluchzer drang aus ihrer Kehle, gänzlich unkontrollierbar. Er war von der Talbrücke gesprungen.
Sie verließen die Autobahn schon kurz nach der Auffahrt wieder. Rosen bremste abrupt und fuhr auf den kleinen Waldrastplatz. Drei verfallene, aus Beton gegossene Tische standen dort, ebensolche Bänke, ein paar Papierkörbe. Nicht einmal eine Toilette gab es. Andere Autos hielten hier so gut wie nie. Bäume nahmen die Sicht auf die Straße. Der Lehrer hielt in der hintersten Ecke, würgte den Motor ab, schnappte sich das Messer und stieg aus. Er riss die hintere Tür auf, umklammerte Annes Hals und zog sie aus dem Auto heraus. Kaum stand sie, spürte sie schon das Messer am Hals. Auch Cornelius war ausgestiegen. Wie eine Marionette mit verhedderten Fäden stand er da. Als wisse er nicht mehr, wie man laufe. Anne sandte ihm einen flehenden Blick. Es konnte nicht sein! Er konnte doch nicht dabei zuschauen, wie sein Vater sie umbrachte! Er sah über sie hinweg, folgte dem Flug eines Vogels und legte den Kopf in den Nacken. Regentropfen zerplatzten in seinem Gesicht. Anne fror so sehr, dass ihr Körper wieder unkontrolliert zitterte. Hätte Rosen sie losgelassen, sie wäre sofort zu Boden gegangen. Aber mit dem Knie trat er sie in den Oberschenkel.
»Los geht’s«, dirigierte er sie in Richtung des Waldes, der den Parkplatz umgab. »Oder ist dir eingefallen, wo das Buch ist? Jetzt hast du die letzte Chance!«
Sollte sie einfach etwas erfinden? Zeit schinden? Aber was? Denk, Anne, denk. Schneller, los… ihr kam einfach keine Idee. Leer gefegt war ihr Hirn, als wasche der Regen jeden Gedanken fort. Hinter den Bäumen blitzte der graue Himmel auf. Der Wald musste dort zu Ende sein. Die Spitze des Messers berührte immer wieder ihre Kehle, der Boden, über den sie liefen, war uneben. Wenn sie sich einfach fallen ließe? Wie ein Blitzlicht tauchte das Bild vor ihr auf: Sie auf dem Boden liegend, Rosen mit dem Messer weit ausholend und auf sie einstechend, Cornelius daneben, hämisch grinsend…
Er hatte sich für seinen Vater entschieden. Nicht für sie. Blut war dicker als Wasser. Nie hätte sie das für möglich gehalten. Also stolperte sie weiter vorwärts, seinen Atem in ihrem Nacken, seine harte Faust um ihren Arm. Dass ein kleiner Mann so stark sein
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