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Frostkuss

Frostkuss

Titel: Frostkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Estep
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hatte.
    »Hey, Süße«, sagte Grandma Frost, drückte mir einen Kuss auf den Scheitel und strich mir mit den Fingern über die Wange. »Wie war es heute in der Schule?«
    Ich schloss die Augen und genoss die sanfte Wärme ihrer Haut an meiner. Ich musste wegen meiner Gypsygabe, wegen meiner psychometrischen Magie, vorsichtig sein, wen ich berührte oder von wem ich mich berühren ließ. Wenn schon Gegenstände lebhafte Visionen aufblitzen ließen, konnte die Berührung mit menschlicher Haut heftige Visionen verursachen und riesige Gefühlswellen über mich hereinbrechen lassen. Ehrlich. Ich konnte alles sehen, was jemand je getan hatte, wusste jedes dreckige kleine Geheimnis, das er je zu verbergen versucht hatte – erfuhr das Gute, das Schlechte und das wirklich Böse.
    Oh, ich war nicht komplett berührungsscheu, wenn es um andere Menschen ging. Gewöhnlich war alles in Ordnung, wenn es nur um kurze, beiläufige Berührungen ging – den zufälligen Kontakt, der entstand, wenn jemand mir einen Stift gab oder ich die Finger eines anderen Mädchens berührte, weil wir beide gleichzeitig in der Cafeteria nach demselben Stück Käsekuchen gegriffen hatten.
    Und eine Menge von dem, was ich sah, hing davon ab, woran die andere Person zu diesem Zeitpunkt gerade dachte. Im Klassenzimmer, beim Abendessen oder in der Bibliothek war ich sicher, weil die meisten um mich herum nur darüber nachdachten, wie langweilig eine bestimmte Stunde war, oder sich Gedanken machten, warum es ungefähr zum hundertsten Mal in diesem Monat Lasagne gab.
    Trotzdem blieb ich in der Nähe anderer Leute vorsichtig, wie meine Mom es mir beigebracht hatte. Obwohl ein Teil von mir meine Gabe wirklich mochte – und die Macht, die es mir verlieh, die Geheimnisse anderer Leute zu kennen. Ja, in dieser Hinsicht war ich ein schlechter Mensch. Aber ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass die netteste Person das schwärzeste, verdorbenste Herz haben konnte – wie der Stiefvater von Paige Forrest. Es war besser, genau zu wissen, wie die Leute wirklich waren, als jemandem zu vertrauen, der einem letztendlich nur wehtun wollte.
    Aber bei Grandma Frost musste ich mich vor nichts fürchten. Sie liebte mich, und ich liebte sie. Das fühlte ich jedes Mal, wenn sie mich berührte – ihre Liebe, weich und freundlich wie eine warme Wolldecke, die mich von Kopf bis Fuß umhüllte. Meine Mom hatte sich für mich genauso angefühlt, bevor sie gestorben war.
    Ich öffnete die Augen wieder und zuckte mit den Achseln, während ich Grandmas Frage beantwortete. »Mehr oder weniger wie immer. Ich habe zweihundert Dollar verdient, indem ich ein Armband gefunden habe. Hundert davon habe ich in die Keksdose gesteckt.«
    Grandma hatte das Geld nicht annehmen wollen, als ich angefangen hatte, es ihr zu bringen, aber ich hatte darauf bestanden. Natürlich gab sie es nicht aus, wie ich es eigentlich wollte. Stattdessen zahlte Grandma das ganze Geld, das ich ihr brachte, in meinem Namen auf ein Sparbuch ein – von dem ich eigentlich gar nichts wissen sollte. Aber ich hatte eines Tages, als ich in ihrer Tasche nach einem Kaugummi gesucht hatte, ihr Scheckbuch berührt, und vor meinem inneren Auge war das Bild aufgeblitzt, wie sie das Sparbuch eröffnet hatte. Ich hatte Grandma allerdings nicht darauf angesprochen. Ich liebte sie zu sehr, um ihr Geheimnis kaputt zu machen.
    Grandma nickte, griff in ihre Tasche und zog selbst einen frischen Hunderter hervor. »Ich habe heute auch ein wenig Geld verdient.«
    Ich zog die Augenbrauen hoch. »Du musst ihr etwas sehr Gutes gesagt haben.«
    »Ihm«, verbesserte mich Grandma. »Ich habe ihm erklärt, dass er und seine Frau schon nächstes Jahr Eltern eines hübschen kleinen Mädchens werden. Sie versuchen schon seit zwei Jahren, ein Kind zu bekommen, und langsam hat ihn die Hoffnung verlassen.«
    Ich nickte. Das war nicht so seltsam, wie es klang. Die Leute kamen zu Grandma Frost, um die verschiedensten Fragen zu stellen. Ob sie heiraten sollten, ob sie jemals Kinder haben würden, ob ihre Partner sie betrogen, welche Nummern sie in der Lotterie tippen sollten. Grandma log niemals jemanden an, der sich von ihr die Zukunft vorhersagen ließ, egal wie hässlich die Wahrheit auch war.
    Manchmal konnte sie den Leuten auch helfen – also ich meine, wirklich helfen. Erst letzten Monat hatte sie einer Frau gesagt, sie solle nach der Arbeit nicht nach Hause fahren, sondern lieber bei einer Freundin übernachten. Hinterher stellte sich

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