Frostkuss
der Altertümer war der größte Bau auf dem Gelände der Mythos Academy und bildete die äußerste Spitze der fünf Gebäude, die zusammen einen vagen Stern formten. Angeblich hatte die Bibliothek nur sechs Stockwerke, aber ich hatte immer das Gefühl, dass sich ihre Türme höher und höher erstreckten, bis sie schließlich mit ihren scharfen, schwertartigen Spitzen den Himmel durchstachen.
Aber was die Bibliothek endgültig superunheimlich machte, waren die Statuen, die jede freie Fläche bedeckten. Greifen, Wasserspeier, Drachen, selbst etwas, das aussah wie ein gigantischer Minotaurus. Die Figuren standen überall – von den breiten, flachen Stufen, die zum Eingang führten, über den verzierten Balkon im vierten Stock bis zu den Ecken des schrägen Dachs. Und sie waren so fein ausgearbeitet und lebensecht, dass es schien, als wären sie irgendwann einmal tatsächlich real gewesen – echte Monster, die über das Gebäude gekrochen waren, bis jemand oder etwas sie hatte erstarren lassen.
Ich beäugte die Greifen, die an den Enden der grauen Steinstufen standen. Die Statuen ragten über mir auf, und beide saßen in einer Habtachtstellung. Die Adlerköpfe waren hoch erhoben, ihre Flügel auf dem Rücken gefaltet, und die dicken Löwenschwänze schlängelten sich um die scharfen, gebogenen Klauen der Vorderpfoten.
Vielleicht lag es ja an meiner Gypsygabe, meiner Psychometrie, aber ich hatte immer das Gefühl, dass diese zwei Greifen mich beobachteten und jede meiner Bewegungen mit lidlosen Augen verfolgten. Als müsste ich sie nur berühren, und sie würden wieder lebendig, um von ihren steinernen Sitzen zu springen und mich zu zerreißen. Es war dasselbe Gefühl, das mich auch erfüllte, wenn ich an den Sphingen am vorderen Tor vorbeimusste und bei fast jeder anderen Statue auf dem Gelände. Ich zitterte, schob die Hände in die Taschen meines Kapuzenpullis, eilte die Stufen hinauf und betrat die Bibliothek.
Ich eilte einen Flur entlang auf die große, offen stehende Doppeltür zu, die in den Hauptraum führte. Wie alles andere in Mythos war auch die Bibliothek der Altertümer alt, muffig und protzig. Aber selbst ich musste zugeben, dass sie einen phantastischen Anblick bot.
Der Hauptraum der Bibliothek lag unter einer riesigen Kuppel, und man konnte bis ganz nach oben unters Dach sehen. Angeblich gab es dort oben Deckenfresken – Gemälde von mythologischen Kämpfen –, verziert mit Gold, Silber und glitzernden Juwelen. Ich allerdings hatte es nie geschafft, durch die ständige Dunkelheit der oberen Stockwerke einen Blick darauf zu erhaschen.
Aber ich konnte die ganzen Götter und Göttinnen sehen. Sie gruppierten sich um den ersten Stock der Bibliothek, als wären sie Wachen und hätten die Aufgabe, auf die Schüler unter ihnen aufzupassen. Die Statuen standen am Rand der gebogenen Galerie, jeweils durch schlanke, klassische Säulen voneinander getrennt. Es gab griechische Gottheiten wie Nike, Athene und Zeus. Nordische Götter wie Odin und Thor. Göttergleiche indianische Wesenheiten wie den Gauner Kojote oder die Weiße Büffelkalbfrau. Und alle waren zehn Meter hoch und aus weißem Marmor geschlagen. Wenn man die Stufen in den ersten Stock erklomm, konnte man auf der Galerie an ihnen allen vorbeigehen. Ich wollte das nie tun. Wie die Greifen vor der Tür waren mir auch diese Statuen ein wenig zu lebensecht.
Mein Blick glitt über die Götter und Göttinnen. Ich sah sie nacheinander an, bis die leere Stelle in dem kreisrunden Pantheon meine Aufmerksamkeit auf sich zog – der Ort, an dem Loki hätte stehen sollen. Es gab keine Statue von ihm in der Bibliothek und auch nirgendwo sonst in Mythos. Ich ging davon aus, dass es etwas damit zu tun hatte, dass er ein böser Kerl war und versuchte, mit seinen Schnittern des Chaos die Welt zu zerstören. Nicht gerade die Art von Gott, dem man einen Schrein errichten wollte.
Schließlich riss ich mich vom Anblick der leeren Stelle los und ging weiter.
Bücherregale zogen sich an beiden Seiten des Gangs entlang, bevor sie sich zu einem freien Bereich öffneten, in dem Tische standen. An einem freistehenden Rollwagen rechts konnten die Schüler Kaffee, Energydrinks, Muffins und andere Snacks kaufen, damit sie nicht ihr Studium unterbrechen und die Bibliothek verlassen mussten, um sich etwas zu essen zu holen. Die Luft war erfüllt vom reichhaltigen Duft von Kaffee, der den trockenen, muffigen Geruch der Tausenden von Büchern überdeckte.
Ich ging weiter, bis
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